Sei hübsch ordentlich und fromm…

Erziehung = groß ziehen oder Größe bewahren?

Sei hübsch ordentlich und fromm…

„...bis nach Haus' ich wiederkomm. Und vor allem, Konrad, hör! Lutsche nicht am Daumen mehr; ...“

Wer kennt ihn nicht, den Daumenlutscher Konrad aus dem Struwwelpeter, den Zappel-Philipp und Konsorten? Ein Buch, das in meiner Kindheit während der 80er noch zum Inventar eines jeden Kinderzimmers gehörte.

Viel getan hat sich in den vergangenen 2 Jahrhunderten, seit das Buch mit „lustigen Geschichten und drolligen Bildern“ entstand. Moderne Eltern würden heutzutage keinem Kind mehr ernsthaft drohen, dass ihnen die Daumen abgeschnitten würden, wenn sie am Daumen lutschen oder dass sie in 5 Tagen sterben würden, wenn sie ihre Suppe nicht essen.

„Gott sei Dank!“ habe ich oft gedacht, dass ich nicht damals Vater war, sondern heute lebe, in einer emanzipierten Welt mit einer Auswahl an moderner, wissenschaftlicher Erziehungslektüre, die so viel weniger brutal ist.

Aber mittlerweile selbst Papa und mit Blick auf die Familien meiner Generation ist nicht schwer zu erkennen, dass etwas mit unserem 'modernen' Erziehungsmodell ebensowenig zu stimmen scheint wie vor 200 Jahren. Depression und Burnout bei jungen Eltern, ADHS und andere schwere psychische Diagnosen schon in früher Kindheit gehören heute zum Normal. Statistiken zeigen weiterhin eine Zunahme von ärztlichen Verschreibungen (starker) Psychopharmaka sowohl für Eltern wie für Kinder.

Auch wenn Kinder zu schlagen heute eine Straftat ist, scheint sich eine Brutalität in unserem modernen Erziehungsmodell Raum gemacht zu haben, vor der wir gemeinschaftlich die Augen verschließen.

Wenn psychische Diagnosen und die Einnahme von Psychopharmaka in unseren Familien normal geworden sind, dann hat das eine Ursache. Diese Ursache liegt damals wie heute in unserem Erziehungsmodell und den damit verbundenen Erwartungen, die wir an Eltern und Kinder unserer Gesellschaft haben.

Und auch wenn wir heute zum Teil andere Werte favorisieren ist der Erziehungsauftrag doch nach wie vor folgender: Die Eltern und das Bildungs-System sollen die Kinder auf das Leben vorbereiten und sie in die Lage versetzen, ihr eigenes Leben zu meistern. Oder vielmehr, das Leben zu meistern, das wir als Gesellschaft kreiert haben und in dem sie sich zurecht finden müssen.

Hierin versteckt sich schon die ganze Brutalität: Es ist die Arroganz, Kinder als diejenigen zu sehen, denen wir etwas beibringen müssten. Unser ganzes Erziehungssystem weltweit basiert auf diesem Bild.

Dieses defizitäre Bild von Kindern ist ein Fluch, der beide Seiten knechtet, Kinder und Erzieher.

Die scheinbare Überlegenheit der Erzieher über die Kinder ist gleichzeitig das Kreuz einer schweren Verantwortung, das auf den Schultern von Eltern, Lehrern und den sogenannten Experten liegt und nicht selten in Burnout und Depression endet, weil diese Rollenbeschreibung und damit Verantwortungsidee keinem gerecht wird, weder Kind noch Eltern oder Lehrern.

Von der Sitzordnung in Schulen und Universitäten über das Bewertungssystem bis zu den Gepflogenheiten des wissenschaftlichen Schreibens und Zitierens beruht alles auf dem Konzept der Überlegenheit von Experten. Es ist das Gewicht einer falschen Macht, das auf Dauer kein Rücken tragen kann.

Dieses ‚System‘, in dem eigentlich keiner sich selbst kennt, erlaubt keinem, sie/er selbst zu sein und erschafft sich darin immer wieder aufs Neue.

Klar, Kinder lernen Rechtschreibung und Algebra, dass die Erde rund ist und all die anderen nützlichen Dinge. Aber unter dem Deckmantel der Wissensbildung lernen Kinder heute wie damals vor allem eins: dass sie noch nicht genug sind. Sie sind erst ‚sehr gut‘, wenn sie all das wissen, was man in der Schule lernt, wenn sie dem gehorchen, was die gängige Meinung ist. Damit machen wir Kinder zu den ärmsten Menschen der Welt, egal wie wohlhabend sie mit Hilfe ihres Wissens und ihrer Talente auch werden können. Die meisten Kinder verlieren im Laufe der Jahre das Gefühl für den Reichtum, der natürlicherweise in ihrem Innersten ruht. Das Gefühl für das, was sie ausmacht jenseits von Wissen und Talenten, das Gefühl, wer sie wirklich sind.

Fast jeder Erwachsene lebt am Ende seiner Erziehung in dem tief eingefrästen Bewusstsein, nicht genug zu sein.

Fast allen Eltern fällt es leicht, sich Gedanken darüber zu machen, was sie alles in der Kindererziehung nicht so schaffen, wie sie es von sich erwartet hätten. Hingegen erzählen die wenigsten Eltern von ihren Stärken und Qualitäten.

Dabei sind es unsere Qualitäten, die wir unseren Kindern mit auf den Weg geben - einfach dadurch, dass wir sie leben.

So wie es Kinder für uns tun. Wie viel von dem, was wir meinen, Kindern beibringen zu müssen, könnten Kinder eigentlich uns wieder beibringen, wenn wir sie ließen?

Was mich als Papa vom defizitären Blick auf Kinder zunehmend befreit, ist die Erkenntnis, dass wir Erzieher dazu da sind, Kinder in ihrer Größe zu bewahren, anstatt Kinder ‚groß ziehen‘ zu müssen.

Neben den praktischen Dingen, die ich meinem Sohn natürlich beibringe, neben allen erforderlichen Grenzen, die ich setze, erlebe ich uns als Team. Zusammen lernen wir gemeinsam Leben.

Ein wahres Bildungssystem bildet uns in der Wahrnehmung unserer Qualitäten, die uns immer schon innewohnen. Auf diesem Fundament kann Wissen vermittelt werden, ohne den Unterton des ewigen Mangels. Es wäre eine Schule, die wahrhaft reiche Menschen hervorbringt.

Gelistet unter

KinderElternBildungssystemErziehung

  • Foto: Steffi Henn