Eine tägliche Erfahrung mit Intimität
Eine tägliche Erfahrung mit Intimität
Das Wort intim ist abgeleitet vom lateinischen Wort „Intimus“, welches „der Innerste“, „der Vertrauteste“, „der am nächsten Stehende“ bedeutet.
Aber wer steht mir eigentlich am nächsten? Wann ist mir jemand vertraut oder gar der Vertrauteste? Ist Intimität auch ohne Anlaufphase möglich und kann sie entstehen, auch wenn man sich nur online trifft?
Die Beziehung zu einem mir sehr nahen Freund ist hierfür ein gutes Beispiel: Getroffen haben wir uns im Rahmen eines Projektes vor einem halben Jahr zum ersten Mal via Skype und seitdem regelmäßig online, aber nie live, da er in Australien lebt. Für mich fühlte sich der Kontakt sofort nah an. Was jedoch in mir genauso schnell ansprang, war ein altgewohntes Standardprogramm in meinem Kopf: Du kennst ihn nicht, werde nicht zu persönlich, sei professionell, halte Dich erstmal zurück, …
Während diese Schleife in mir loslief, wurde mir bewusst, wie absurd meine eigenen Gedanken klangen. Da war ein Mensch vor mir, zu dem ich sofort eine tiefe Verbindung spürte und der ganz offensichtlich mit mir auf einer Wellenlänge lag, warum sollte ich diesem Menschen erstmal eine verbogene Version von mir selbst präsentieren und dann erwarten, dass er unter diesem verqueren Nebel mein wirkliches Ich wahrnehmen würde?
Ich habe mich in dem Fall ganz bewusst dafür entschieden, alles, was mir mein Kopf sagte, zu ignorieren, nur auf mein Körpergefühl zu hören und vollkommen offen und transparent auf ihn zuzugehen. Dieses Maß an Offenheit, was wir beide in dem Moment hatten, hat dann im Nu zu einer tiefen Freundschaft geführt, die sich so vertraut anfühlt, als bestünde sie schon seit Jahrzehnten.
Anderes Beispiel: Lockdown wegen COVID-19. Ich muss noch schnell einkaufen, springe - mit meinen Gedanken einzig beim Einkaufszettel - in den Supermarkt, eile zur Kasse. An der Kasse werde ich heftigst und lautstark vom Kassierer angefahren, warum ich wohl keinen Einkaufswagen genommen hätte, wo doch draußen ein riesiges Hinweisschild hierfür stünde.
In dem Moment wäre meine frühere Standardreaktion „Angriff ist die beste Verteidigung“ gewesen und ich hätte mich über das unhöfliche Gepöbel echauffiert und eine massive innere Mauer zwischen mich und den anderen gebaut: Feind auf der einen, ich auf der anderen Seite.
An dem Tag war das anders. Während mir die Frustwelle wie ein Hammer entgegenflog, wurde mir als erstes mein schlichtweg nicht korrektes Verhalten bewusst. Mir wurde bewusst, dass ich wahrscheinlich nicht der Erste an dem Tag war, der die Regeln ignoriert hatte und der Kassierer wohl seit Stunden den Frust von Menschen abbekam, die vom Lockdown und der Vielzahl von Regeln genervt waren.
Ich hatte in dem Moment Verständnis für die Reaktion des Kassierers und hatte den Gedanken: „Krass, Dein Job macht momentan sicher keinen Spaß“. Ich konnte das Verhalten komplett vom Menschen trennen und bin weich und offen ihm gegenüber geblieben. Nachdem ich mich kurz wieder gesammelt hatte, habe ich mich ehrlich und ruhig für mein Versäumnis entschuldigt und dann war ich überrascht, denn urplötzlich kroch mein Gegenüber unter seinem Schutzwall hervor, war wie ausgewechselt und wünschte mir lächelnd noch einen schönen Tag.
Das Ende dieser Situation zeigt, welche Kraft Intimität hat. Die Intimität, die ich lebe, hängt von nichts und niemandem ab, aber sie ist eine Einladung für jeden, auch den eigenen Schutzwall runterzufahren und sich auf andere einzulassen.
Intimität ist nichts, dass ich mir erarbeiten muss, Intimität ist eine Entscheidung, die ich in jedem Moment treffen kann. Wenn ich es wirklich möchte, kann ich mit jedem Menschen in jedem Moment intim sein, egal, ob ich ihn seit Jahrzehnten kenne, oder gerade erst getroffen habe, egal, ob er mir sympathisch ist, oder ich ihm.
Intimität hat nichts mit Sex zu tun und letztlich noch nicht einmal direkt mit anderen Menschen. Sie hat in jedem Moment Raum, in dem ich willens bin, ehrlich und transparent zu sein. Wenn ich mich einfach so zeige, wie ich gerade bin, statt zu versuchen, einem Ideal gerecht zu werden, fallen die Erwartungen an mich und andere weg. Was stattdessen entsteht ist Raum. Raum, in dem jeder von uns frei ist, zu Intimität ja zu sagen oder nein.
Intimität ist immer und für jeden im Angebot. Sie ist nichts anderes, als ein Sichtbarwerden davon, wie meine Beziehung zu mir selbst aussieht.
Diesen Punkt finde ich besonders genial, da er deutlich macht, dass die Tiefe und Kontinuität von Intimität in meinem Leben von nichts anderem abhängt als davon, wie nahe ich mir stehen möchte.
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