Die Bibliothek von Alexandria

Die Bibliothek von Alexandria war eine der größten und berühmtesten Stätten der antiken Welt und der Mittelpunkt der Lehren der alterslosen Weisheit.

Gegründet von Alexander dem Großen nach seinem Sieg über die Perser, blieb Alexandria die Hauptstadt des griechisch beherrschten Ägyptens bis zum Tod von Kleopatra und der Eingliederung Ägyptens in das Römische Reich. Die Verbreitung der griechischen Wissenschaft, Religion und Philosophie im gesamten östlichen Mittelmeerraum und Nahen Osten gilt als die bedeutendste Auswirkung von Alexanders Eroberung. In Judäa beispielsweise mischte sich die griechische Philosophie, insbesondere die Lehren des Pythagoras und der Platonismus, mit jüdischen Elementen und führte zur Bewegung der Essener.

Alexandria war eine Neugründung und ohne gewachsene Traditionen von Anfang an eine Stadt voller Einwanderer. Westlich des Nildeltas gelegen, wurde ihre Kultur von den alten esoterischen Traditionen Ägyptens beeinflusst, die bis zu Hermes und Imhotep zurückreichen. Die Herrscher jedoch waren Griechen und obwohl die Stadt aufgrund der vielen Einwanderer aus verschiedenen Ländern mehrsprachig und multikulturell war, dominierte die griechische Sprache, nicht nur unter den Herrschern sondern auch allgemein. Aufgrund ihrer günstigen Lage am Mittelmeer wurde die Stadt durch den Handel reich, was zu noch mehr Zuwanderung führte, und innerhalb eines Jahrhunderts nach ihrer Gründung war Alexandria die größte Stadt der antiken Welt.

Die griechischen Herrscher von Alexandria wollten eine Hauptstadt, die mit dem Athen des fünften Jahrhunderts v. Chr. vergleichbar war. Sie holten sich Philosophen, Mathematiker, Wissenschaftler, Dichter und Historiker vom griechischen Festland. Die Möglichkeiten, die die Stadt bot, zogen auch Gelehrte aus anderen Mittelmeerländern an. Die griechischen Stadtgründer hatten ein Ideal vor Augen, das die Bewohner von Alexandria in den folgenden Jahrhunderten verwirklichten. Die Stadt entwickelte sich zu einer Blüte der alterslosen Weisheit, die bis zur Renaissance unerreicht blieb.

Alexandria war ein Handelsposten im Mittelmeer und sollte Athen als Zentrum von Wissenschaft und Philosophie Konkurrenz machen. Jedes Schiff, das Anker legte, musste alle mitgeführten Bücher zum Kopieren übergeben und diese bildeten die Grundlage der alexandrinischen Bibliothek. Die Herrscher der Stadt schickten auch Boten in den gesamten Mittelmeerraum, um nach Büchern für ihre Sammlung zu suchen. So entfaltete sich eine universelle Weisheit, die nicht auf eine bestimmte Tradition beschränkt war. Außer der Bibliothek gründeten die griechischen Herrscher eine Schule für Medizin und förderten Philosophie und die Wissenschaften.

Alexandria wurde zu einem Ort, an dem sich die größten Philosophen und Wissenschaftler der damaligen Zeit trafen. Sie kamen aus dem Osten und dem Westen, um an dem Angebot der alexandrinischen Bibliothek teilzuhaben. Mit Schwankungen florierte sie sieben Jahrhunderte lang, von ihrer Gründung im 4. Jahrhundert v. Chr. bis zu ihrer Zerstörung und der Ermordung Hypatias durch einen christlichen Mob Anfang des 5. Jahrhundert n.Chr.

In Alexandria trafen viele kulturelle, wissenschaftliche, philosophische und religiöse Traditionen aufeinander und beeinflussten sich gegenseitig. Neben griechischen Philosophen, Wissenschaftlern und Eingeweihten esoterischer griechischer Schulen wie der Orphischen Mysterien, gab es Buddhisten und Yogis aus Indien und Zentralasien; Magier und Anhänger Zarathustras aus Persien; Essener und Mitglieder anderer jüdischer esoterischer Gruppen; Römer und Weise aus dem gesamten Römischen Reich sowie Geheimnisträger der alten Wissenschaften, Philosophie und Religion Ägyptens, die zur Zeit der Gründung Alexandrias bereits Tausende von Jahren zurückreichten.

Als offener Hafen und blühende Handelsstadt waren in Alexandria alle willkommen, und es kam zu einem regen Austausch und der Vermischung von Traditionen, die die Basis der wissenschaftlichen und philosophischen Errungenschaften schufen und die Blütezeit Alexandrias prägten. Dazu gehörten die Geometrie des Euklid, die Ingenieurskunst des Archimedes, die neupythagoräische und neuplatonische philosophische Synthese des Plotinus, die Schriften des jüdischen Philosophen Philo, die Astronomie von Aristarchos, die Astronomie, Geographie und Mathematik des Ptolemäus, die Mathematik und Geographie von Eratosthenes und Strabo und die Mathematik von Theon und seiner Tochter Hypatia – nur einige Höhepunkte des Vermächtnisses, das die goldenen Jahrhunderte Alexandrias der Menschheit hinterlassen haben.

Doch der Schwerpunkt der großen Bibliothek von Alexandria war die Alterslose Weisheit.

Die Dichter, Mathematiker, Astronomen, Wissenschaftler, Philosophen und religiösen Anhänger der vielen Traditionen arbeiteten nicht im luftleeren Raum, sondern wurden von einem Impuls geleitet, der die verschiedenen Richtungen zusammenbrachte. Durch ihre jeweilige Art ergänzten und bereicherten diese Gelehrten den Ausdruck der alterslosen Weisheit, deren Wahrheiten so in die Stadt gebracht und über die Jahrhunderte weitergegeben wurden.

Außer der Bibliothek errichteten die ersten Herrscher der Stadt, Ptolemaios I. und Ptolemaios II., schon früh ein Museum – einen ,Ort der Musen‘, benannt nach den griechischen Göttinnen der Wissenschaft, der Philosophie und der Künste. Zusammen mit der Bibliothek wurden beide Stätten zu Zentren der alexandrinischen Gelehrsamkeit, wo die Lehren der alterslosen Weisheit bewahrt und zum Studium zur Verfügung gestellt wurden.

Die Bibliothek war nicht nur einer intellektuellen Elite, also Schriftstellern, Dichtern, Wissenschaftlern und Gelehrten vorbehalten, sondern stand jedem offen, der sich ernsthaft mit dem Studium der Wahrheit befasste, ob gebildet oder ungebildet, ob Frauen oder Männer. Mitglieder der Bibliothek wurden auf Lebenszeit aufgenommen und erhielten ein großzügiges Gehalt, Steuerbefreiung (ein Segen zu jener Zeit) sowie freie Kost und Logis – und die Freiheit, keiner bestimmten Religion oder etablierten Denkweise folgen zu müssen.

Unter Ptolemaios II. nahm die Idee der Universalbibliothek Gestalt an; er beherbergte mehr als hundert Gelehrte im Museum, die Originalmanuskripte griechischer Autoren (einschließlich der Privatsammlung des Aristoteles) studierten, Vorträge hielten, Texte übersetzten, abschrieben und sammelten, einschließlich der Übersetzungen von Werken aus der östlichen Welt. Die Sammlung beinhaltete auch religiöse Schriften, z.B. buddhistische und hebräische Texte.

In diesem Sinne öffnete die Bibliothek Raum für die Synthese vieler Traditionen und basierte auf einem Verständnis von Wissenschaft, Philosophie und Religion, das nicht auf Rationalität allein beschränkt war, wie wir dies heute gemeinhin unter ,Wissenschaft‘ verstehen.

Das breite Spektrum der Bibliothek und ihrer Synthese aus Philosophie, Religion und Wissenschaft wird an dem Beispiel von Eratosthenes anschaulich, einem libysch-griechischen Gelehrten, der 236 v. Chr. Chefbibliothekar wurde. Er war Geograph, Mathematiker, Dichter, Historiker und Astronom. Zu seinen zahlreichen Errungenschaften gehörten eine Weltkarte, ein System der Breiten- und Längengrade, ein System zur Ermittlung von Primzahlen, eine Karte mit 675 Sternen, ein Kalender mit Schaltjahren und die Berechnung des Erdumfangs und -durchmessers mit nur geringer Abweichung von der wirklichen Größe.

Hypatia, 370 n. Chr. in Alexandria geboren, wurde auch Teil des Lehrkörpers der Bibliothek. Ihr Vater Theon war ein berühmter Mathematiker und der letzte Direktor der Bibliothek, bevor diese 415 n. Chr. zerstört wurde. Hypatia war in jeder Hinsicht begabt und hatte Zugang zu allen Bereichen der Bibliothek. Ihr Vater hatte sie in Mathematik, Astronomie und Philosophie unterrichtet und ihre Unabhängigkeit gefördert: „Behalte dir das Recht vor, selbst zu denken", sagte er, „denn falsch zu denken ist besser als gar nicht zu denken."

Hypatia war eine brillante öffentliche Rednerin und Gelehrte und schrieb über Mathematik und Astronomie. Man geht davon aus, dass viele ihrer Werke mit der Bibliothek zerstört wurden. Bekannt ist jedoch, dass sie sich mit algebraischen Gleichungen und Kegelschnitten beschäftigte und das Astrolabium erfand, das zur Schiffsnavigation verwendet wurde, ein Gerät zur Berechnung von Datum und Uhrzeit mittels der Positionen von Sternen und Planeten. Sie erfand außerdem Geräte zur Messung der Dichte von Flüssigkeiten.

Hypatia war bekannt für ihr Charisma, ihren Charme und die ausgeprägte Fähigkeit, ihren Studenten schwierige mathematische und philosophische Konzepte verständlich zu machen. Diese widersprachen und bedrohten die Lehren der frühen Kirche, die zunehmend in die Freiheiten der Wissenschaft, des philosophischen und religiösen Ausdrucks eingriffen, die durch die Bibliothek repräsentiert wurden. Diese von der Kirche und ihren eifernden Handlangern, den Parabalani, als Provokation aufgefasste Freiheit führte zur Ermordung von Hypatia und schließlich zur Zerstörung der großen Bibliothek.

Lehrer aus dem gesamten Mittelmeerraum und aus weiter entfernten Ländern wie Indien lehrten, studierten und tauschten ihre Erkenntnisse in der Bibliothek und im Museum aus. Wertvolle Texte der alterslosen Weisheit, die bis zu Hermes zurückreichen, wurden ausfindig gemacht, zur Aufbewahrung in die Bibliothek gebracht, kopiert und intensiv studiert. Fast alles, was wir über antike und klassische Schriften wissen, verdanken wir den Sammlern und Bibliothekaren der Bibliothek von Alexandria.

Die Bibliothek war dem Ziel gewidmet, gelebte Weisheit für alle Zeiten zu bewahren. Sie war wie eine Pyramide, eine neue Lehrstelle, die der Menschheit den Zugang zu dieser Weisheit sicherte und den Suchenden immer zur Verfügung stand.

Alle, die die Bibliothek betraten, wurden mit Respekt und Ebenbürtigkeit empfangen. In den kühlen Gewölben mit ihren Steinsäulen und ohne die Strenge der pythagoreischen Schulen oder Essener-Gemeinschaften wurden alle Menschen, die sich für das Studium der alterslosen Weisheit begeisterten, unterschiedslos willkommen geheißen. Es fanden regelmäßig Vorträge und Seminare statt, und jeder wurde ermutigt, die Wahrheit durch die eigene Lebensweise zu ergründen und deren Heiligkeit im Alltag umzusetzen.

Die Reihen und Regale voller Pergamente strahlten eine Würde aus und sie waren nach Kategorien, Ursprungsort und danach geordnet, wie sie in das universelle System der alterslosen Weisheit passten.

In der Bibliothek herrschten Betriebsamkeit und Begeisterung für das Studium und die Diskussion – sie war ein lebendiges Zentrum, in dem alles in einer Qualität der Stille geschah. Das Ziel war nicht das Wissen an sich, sondern Weisheit für alle. Im Rhythmus von Stille und Bewegung zu leben, ließ die Weisheit sichtbar werden.

Doch letztlich war dies nicht von Dauer. Die lange Periode der Stabilität, die das Römische Reich den Städten rund um das Mittelmeer gewährte, endete mit seinem Niedergang. Die neue Kirche, die mitunter fanatisch auftrat, stellte nun die offizielle Religion des Reiches. Sie sah die Alterslose Weisheit und die mit der Bibliothek verbundenen Lehrer als direkte Bedrohung ihrer Macht und ihres Prestiges.

Die Bibliothek wurde geplündert, ein Großteil der Literatur gestohlen, zerstört oder verbrannt und die Lehrer vertrieben oder, schlimmer noch, wie im Fall von Hypatia, brutal ermordet. Mit dem Erlöschen des Lichts von Alexandria brach über Europa das finstere Mittelalter herein – aber es ging nicht alles verloren. Ein Teil wurde in der Wüste versteckt und wie die Schriftrollen von Nag Hammadi später wieder entdeckt. Andere Schriften wurden in die Depots von Konstantinopel verbracht um dann – nach der Eroberung der Stadt durch den Islam – zur rechten Zeit in der Renaissance in Europa wieder aufzutauchen.

Als ein Ort auf Erden ist die Bibliothek von Alexandria ein Symbol für die Synthese von Philosophie, Wissenschaft und den alten Mysterien. Ihre Kraft und Bedeutung bestand darin, dass sie die scheinbar unvereinbaren Ausdrucksformen der einen Wahrheit zusammenbrachte – eine Bedrohung für Machthaber, ob weltlich oder geistlich.

Obwohl die Zerstörung der Großen Bibliothek von Alexandria als die größte Katastrophe der westlichen Welt gilt, geht es nicht um einen bestimmten Ort, um einen Bau oder die Bücher, die in der Bibliothek aufbewahrt wurden, sondern um das verkörperte Bewusstsein. Die Bedeutung der Bibliothek lag in den Menschen, die sich dort begegneten und deren Bewegungen die Weisheit verkörperten und ihr Ausdruck verliehen. Die Plünderung der großen Bibliothek zielte ebenso auf diese Bewegungen wie auf die Hunderttausende von Büchern. Wie in vielen Strömungen der Herkunftslinie ging es auch hier um deren Vernichtung. Doch einige konnten fliehen und setzten die Tradition, die auf der alterslosen Weisheit und ihren Bewegungen basiert, andernorts fort.


Frei übersetzt aus dem Englischen. Originalartikel: The Alexandrian Library

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  • Illustration: Desiree Delaloye, Entrepreneur, Creative Director, J.P.