Der Roseto Effekt – Forschung über Zusammenhänge von Lebensart und Herzerkrankungen
Der Roseto Effekt – Forschung über Zusammenhänge von Lebensart und Herzerkrankungen
Was wäre, wenn Forscher einen Weg gefunden hätten, das Risiko von Herzerkrankung vor dem 55 Lebensjahr gänzlich auszuschalten und das Risiko nach dem 65. Lebensjahr daran zu erkranken, glatt um die Hälfte zu reduzieren? Und das alles, ohne die Menge an Fett im Essen oder den Alkoholkonsum zu reduzieren?
Nun, eine kleine Stadt italienischer Einwanderer in Roseto, Pennsylvania, hat ganz unbeabsichtigt herausgefunden, wie man das macht, und die Ergebnisse wurden wissenschaftlich bestätigt und validiert. 1964 wurde eine Studie hierüber im Journal der Amerikanischen Medizinischen Vereinigung (Journal of the American Medical Association) veröffentlicht. Die Studie entstand, weil der Arzt der kleinen Stadt völlig überrascht war über die nahezu vollständige Immunität der Stadtbewohner gegenüber Herzerkrankungen. Er schrieb einen Bericht über seine Beobachtungen und daraufhin wurde eine ausgedehnte Studie, finanziert durch das „American State and Federal Government“, durchgeführt.
In dieser Studie wurden die Gesundheitsstatistiken der Bevölkerung Rosetos mit denen der Nachbarstädte verglichen und die Ergebnisse waren schlichtweg erstaunlich. Während dieser 7 Jahre laufenden Studie von 1955 bis 1961:
- starb niemand in Roseto, der jünger als 47 Jahre alt war, an einem Herzinfarkt; und es traten bei Männern unter 55 Jahren grundsätzlich keinerlei Herzerkrankungen auf.
- Die Häufigkeit von Herzinfarkten bei Männern über 65 Jahre war im nationalen Vergleich nur halb so hoch.
- Die Sterblichkeitsrate im Zusammenhang mit Herzerkrankungen war im Vergleich zu anderen Städten um 35 % geringer.
Die Studie bestätigte die Beobachtung des ortsansässigen Arztes und man begann damit, nach den Faktoren zu suchen, die für die bessere Gesundheit der Roseter sorgten. Dies wurde bekannt als der Roseto Effekt.
Was nun machte die Bewohner Rosetos nahezu unempfänglich für Herzerkrankungen?
Ja, diese Frage stellten sich die Forscher auch und so schauten sie nach dem bekanntesten Faktor – der Ernährungsweise. Da die Roseter italienischen Ursprungs sind, nahmen die Forscher zunächst an, dass diese eine gesunde 'mediterrane' Diät mit Fisch, Olivenöl und frischem Gemüse haben würden. Doch dem war nicht so – tatsächlich hatten die Roseter nicht genug Geld, um Fisch zu kaufen und aßen stattdessen fettreiche Würste und Fleischfrikadellen mit einem Fettgehalt von bis zu 40% in ihrer gesamten Ernährung. Und die Fette waren auch keine ‚gesunden’ Fette, denn die Roseter brieten ihr Essen in gutem altem Schweineschmalz an.
Da offensichtlich nicht eine bestimmte Ernährung der entscheidende Faktor war, dachten die Forscher, muss es die Lebensweise sein. Also schauten sie nach Freizeit und Arbeitsweise der Roseter. Es stellte sich heraus, dass die Bewohner sehr hart arbeiteten, die meisten im Steinbruch und in Minen, beides bekannt für extrem schwierige Arbeitsbedingungen und hohe Unfallraten. Und in ihrer Freizeit pflegten die Roseter ihren geliebten Wein- und Zigarrenkonsum auf maßlose Weise.
Also um das klar zu stellen – die Roseter wiesen eine extrem niedrige Herzerkrankungsrate auf, obwohl sie in Mengen in Schmalz gebratenes rotes Fleisch verzehrten, heftig tranken und rauchten und in giftigen Schieferminen arbeiteten? Ja, genau.
Das hatte zur Folge, dass die Forscher ziemlich verblüfft waren und sie daraufhin weitere Faktoren wie Ethnizität, Wasserversorgung, Umweltfaktoren und alles Mögliche mehr untersuchten. Am Ende kamen sie zu dem Ergebnis, dass die ungewöhnlich niedrige Rate an Herzerkrankungen in Roseto keinem dieser Faktoren zugeschrieben werden konnte.
Während sie selbst nun in der Stadt lebten, um die Studie durchzuführen, beobachteten die Forscher einige bedeutende Unterschiede bezüglich der Art und Weise wie die Roseter ihre Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft pflegten. Sie beobachteten eine bemerkenswert ausgeprägte „Jeder kennt Jeden“ - Gemeinde, deren Bewohner eng miteinander verbunden waren. Eine Gemeinde, die zusammenhielt und sich gegenseitig unterstützte, mit starken familiären und gemeinschaftlichen Bindungen, in der besonders die Älteren nicht an den Rand gedrängt, sondern gewürdigt wurden. Einfach ausgedrückt: die Roseter lebten in Verbindung miteinander.
Und so kamen die Forscher zu der Schlussfolgerung, dass die „Qualität der Familienverhältnisse und das soziale Milieu relevant seien, um sich vor Tod durch Herzinfarkt zu schützen.
Mit anderen Worten, sie nahmen an, dass die Beziehung zu anderen Menschen das Risiko einer Herzerkrankung beeinflusst.
Wow!!! Diese Bombe wurde über das streng die wissenschaftlichen Fakten prüfende Journal of the American Medical Association direkt in das Herz der medizinischen Fachwelt geworfen, sehr zum Entsetzen und zur Kritik vieler medizinischer Fachleute damals. Es gilt zu bedenken, dass dieser Artikel in den beginnenden 60ziger Jahren veröffentlicht wurde, einer Zeit, in der nur ein Drittel der Mediziner an einen Zusammenhang von Zigarettenkonsum und der Erkrankung an Lungenkrebs dachten. Und gerade mal 10 Jahre zuvor hatte man überhaupt erst begonnen, einen Zusammenhang zwischen Gesundheit und Ernährung zu sehen. Für diese Studie war also auch nur den Vorschlag zu machen, dass unsere Beziehungen das Risiko einer Herzerkrankung beeinflussen, extrem radikal, um es vorsichtig auszudrücken.
In den folgenden Jahren verteidigten die Forscher ihre Studien vor den Angriffen der Zyniker und Verleumder und gingen noch einen Schritt weiter, um ihre Ergebnisse zu bestätigen. Sie erhielten hierfür eine Finanzierung und gingen 30 Jahre später wieder zurück nach Roseto.
Dieses Mal beobachteten sie eine deutliche „Amerikanisierung“ in der Gesellschaft und die Bevölkerung lebte zunehmend inselartig, jeder für sich und entsprechend weniger unterstützend füreinander. Die Forscher prognostizierten, dass die Sterblichkeitsraten und Herzerkrankungen durch das Dahinschwinden der engen Beziehungen auf ein ähnliches Niveau steigen würden wie in den umliegenden Städten.
Und wie von ihnen vermutet, konnte bestätigt werden, dass eine 'Übereinstimmung in der Sterblichkeitsrate zwischen Roseto und Nachbarstädten mit dem Schwinden der ehemals grösseren Solidarität und Homogenität innerhalb der Gesellschaft' nun auch bei den Rosetern zu verzeichnen war. Es gab einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Wandel der Beziehungensqualität unter- und miteinander und der gestiegenen Sterblichkeitsrate. Auch diese Studie wurde wieder wissenschaftlich begutachtet und 1992 im Amerikanischen Journal of Public Health veröffentlicht.
Die Ergebnisse dieser Studien sind ein echter Meilenstein in der medizinischen Forschung. Sie präsentieren eindeutige, von Experten geprüfte statistische Beweise dafür, dass unsere Beziehungen in der Gemeinschaft einer der bedeutendsten, wenn nicht sogar der Hauptfaktor für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden ist, insbesondere im Falle von Herzerkrankungen.
Diese Information ist erstaunlich, aber noch erstaunlicher ist es, dass wenn es sich hier um wissenschaftlich bewiesene Tatsachen handelt, warum haben wir dann nichts unternommen, diese Lebensweise in unseren Gemeinden zu fördern? Unsere Lebensweisen und Beziehungen werden zunehmend oberflächlich, brüchig und zerfahren, obwohl die medizinische Wissenschaft bewiesen hat, dass eine solche Lebensart unserer Gesundheit schadet. Es stellt sich die Frage, wie weit wollen wir unsere Gesundheit leiden lassen als Ergebnis unserer zunehmenden krankmachenden Beziehungen und Gemeinschaftsformen?
Die Roseto-Studie gibt uns eine unglaublich wertvolle Einsicht, auch wenn diese ignoriert wird, in die wirklichen Ursachen von Herzerkrankungen. Auch wenn medizinische Studien zeigen, dass Ernährung ein beitragender Faktor zu Herzerkrankungen ist, weist die Roseto-Studie darauf hin, dass unsere Ernährungsweise eine weitaus geringere Rolle spielt, als es zur Zeit postuliert wird. Eigenart wissenschaftlicher Studien ist, dass sie aufeinander aufbauen, d.h. man erhält ein Ergebnis bzw. eine Einsicht in einen Sachverhalt und erforscht diesen dann weiter, um die Gesamtheit eines Prozesses zunehmend in Gänze zu verstehen. Was wäre nun, wenn die Roseto-Studie fortgesetzt würde? Was wären die weiterführenden Faktoren, die es zu erforschen gäbe und welche Ergebnisse dürfte man erwarten?
Die Roseto-Gemeinde der 60er Jahre mit ihrem so gut entwickelten Beziehungsgefüge ist verloren gegangen und kann nicht länger der Erforschung des urspünglichen Effekts dienen, aber wie wäre es, eine Gemeinschaft von Menschen zu erforschen, die vergleichbare Beziehungsqualitäten lebt und darüberhinaus Faktoren wie gesunde Ernährung, angemessenes Fitnesstraining, gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen etc. als Teil ihres Lebensstils berücksichtigen würde? Dürfte man nicht erwarten, dass die Häufigkeit von Herzinfarkten und Herzerkrankungen noch niedriger ausfallen würde? Möglicherweise würde sich zudem sogar die Beziehungsqualität noch weiter vertiefen, da Lebensumstände, allgemeine Gesundheit und Vitalität sich auch auf das emotionale und geistige Wohlbefinden positiv auswirken würden. Doch sicherlich müssen wir nicht erst auf weitere wissenschaftliche Studienergebnisse warten, bevor wir damit beginnen, einfach selbst aktiv zu werden.
Erneut zu lernen, in jedem Moment die Entscheidung zu treffen, mit den Menschen, die uns umgeben, tiefer in Beziehung zu treten, sei es mit Arbeitskollegen, Familienmitgliedern oder sogar mit den Menschen, denen wir zufällig auf der Straße begegnen, hat das Potential, der Tropfen Wasser zu sein, der kollektiv einen Ozean des Wandels schafft für die Art und Weise, wie wir uns miteinander beziehen und letztendlich zum Wohle unser aller Gesundheit und Wohlbefinden beiträgt.
Frei übersetzt aus dem Englischen. Originalartikel: The Roseto Effect – A lesson on the true cause of heart disease
Gelistet unter
Beziehungen, Herzerkrankungen, Lebensstil, Gesundheitszustand, Forschung