Der ständige Blick nach außen

Der ständige Blick nach außen

Der ständige Blick nach außen

Muskelbepackte Männer springen uns mittlerweile von nahezu jedem Werbeplakat entgegen und vermitteln, dass nur ein derartiges Aussehen zu Erfolg führt. Wie viel Photoshop und Illusion dabei im Spiel sind, fragt sich kaum jemand. Perfekter Körper, perfektes Lächeln, perfekte Zähne, perfekte Manieren, der richtige Job, mehr als genug Geld, …

Der Druck und das Anspruchsdenken, denen wir ausgesetzt sind, ist gigantisch, sowohl von unserem Umfeld wie von uns selbst. Irgendwann werde ich unter diesem Einfluss mit ziemlicher Sicherheit meinen, mich verbessern zu müssen und dem wahrscheinlich auch nachgeben.

Vielleicht entscheide ich mich, etwas für meine Fitness zu tun und betrete das erste Mal ein Fitnessstudio, diesen Ort, an dem Selbstoptimierung sowie Testosteron und männliches Balzgehabe permanent die Luft schwängern. Diesen Ort, wo muskelgestählte Fitnessjunkies ihren Körper zigmal die Woche versuchen, noch perfekter zu modellieren.

Was macht das mit mir?

Meist gibt es zwei mögliche Szenarien:

Szenario 1: Ich fühle mich abgestoßen und komme spätestens nach ein paar Besuchen nie wieder und flüchte mich entweder darein, mich nicht gut genug oder hässlich zu fühlen, oder ich verurteile das, was ich im Fitnessstudio gesehen und erlebt habe als primitiv und schaffe mir so eine Distanz hierzu.

Szenario 2: Ich steige voll und ganz ein, mache das Fitnessstudio zu meinem Tempel und versuche, mit immer größeren Gewichten gegen das anzupumpen, was mich im Alltag belastet.

Doch egal, ob Fitnessjunkie, notorischer Sportmuffel und Sofa-Nerd oder perfekter Mann mit perfektem Körper und perfektem Leben, wer von uns ist ganz tief in sich drin und aus sich heraus wirklich glücklich und in sich ruhend?


Warum ist es so normal geworden für uns, ständig nach außen zu schauen, um Bestätigung und Anerkennung zu suchen? Wie man schneller, höher, weiter kommt im Leben, hat man uns immer wieder versucht einzuimpfen, wer aber hat uns beigebracht oder vorgelebt, was es heißt, uns selbst zu lieben?

Wenn ich einen der Muskelmänner im Fitnessstudio anschaue, sehe ich meist vor allem einen zarten kleinen Jungen, der sich im Laufe des Erwachsenwerdens immer wieder verletzt und nicht gesehen, geschweige denn ernstgenommen gefühlt hat und einfach nur irgendwo dazu gehören und geliebt werden möchte. Jemanden, der eigentlich keiner Fliege etwas zu Leide tun kann und sich doch oft hinter einem Fleischpanzer und Gehabe versteckt, dass einschüchtert und entweder suggeriert „So perfekt wie ich wirst Du niemals aussehen!“, „Find mich geil!“ oder „Brichst Du mein Herz, breche ich Dein Genick!“.

Was bringt uns Männer dazu, unsere innere Zartheit und Sanftheit derart zu verstecken und uns innerlich abzuschotten?

Warum fällt es uns oft so schwer, ein gesundes Maß zu finden. Fitness und Bewegung sind essentiell wichtig, um unseren Körper gesund zu halten. Warum vermeiden wir sie entweder komplett oder machen sie zu einer Droge, von der wir nicht genug bekommen können und schaden so schleichend unserem Körper irgendwann mehr als wir ihm nutzen?

Von klein auf versuchen wir der Beste, der Schnellste, der Größte, der Erfolgreichste, der am besten Aussehende, sprich, der Perfekteste zu sein – oder geben auf irgendeinem Teil der Wegstrecke einfach auf. Wir oszillieren zwischen Extremen, statt in uns zu ruhen.

Schon wenn ich mir wünsche, dass mein Bauch flacher, mein Po knackiger, oder mein Bankkonto dicker wäre, ohrfeige ich mich eigentlich vor allem erstmal selbst, da ich meine Erwartungen an das, was ich als angemessen und erstrebenswert definiert habe, offensichtlich nicht erfülle. Die hunderten dieser täglichen Ohrfeigen sind im Laufe des Lebens so normal geworden, dass ich sie meist noch nicht einmal mehr wahrnehme.

Es sieht gut aus und ist gesellschaftlich in höchstem Maße anerkannt, ständig besser sein zu wollen, aber gesund ist es nicht – und es wird uns niemals glücklich machen und zur Ruhe kommen lassen.

In dem Moment, wo ich, wenn ich in den Spiegel schaue, nicht mehr zuallererst Baustellen und Makel sehe, sondern einen zutiefst liebenswerten und schönen Mann, bin ich vom ständig schneller auf den Abgrund zurasenden Zug der Perfektion abgesprungen.

Aber um abspringen zu können, braucht es als erstes eine große Portion unbequemer Ehrlichkeit. Ehrlichkeit, um zu sehen, wie sehr unser Leben davon bestimmt ist, externe Standards und Erwartungen erfüllen zu wollen, und wie fest wir uns im Laufe unseres Lebens unser ganz eigenes Korsett aus Regeln und Erwartungen geschnürt haben, von dem wir uns vermeintlich gehalten fühlen, während es uns eigentlich die Luft zum Atmen abschnürt und uns die Bewegungsfreiheit nimmt.

Bevor wir aktiv eine Rolle in dem Theater aus Konventionen, Regeln und Zeitgeist zu spielen begonnen haben, war die Welt für uns anders. Wer von uns hat sich als Dreijähriger gefragt, ob er schön genug, reich genug, klug genug oder erfolgreich genug ist?

Solange wir nicht nach außen geschaut haben und uns einfach nur auf das verlassen haben, was wir tief in uns ganz natürlich wussten, war klar, was wir in jedem Moment wollten und brauchten, und wir hatten keine Hemmungen, das auszudrücken und einfach zu machen, anstatt uns in Gedanken und Tagträumen zu verlieren oder einen Schlachtplan zu machen und beständig ein für und wider abzuwägen.

Wenn ich den Vergleich mit anderen auch nur für 5 Minuten wirklich ganz ausschalte, merke ich, dass ich mich gar nicht ungenügend oder unattraktiv finde. Jeglicher Zweifel an mir oder jegliche Erwartung an etwas, dass ich besser machen könnte, kann nur daraus entstehen, dass ich nach außen schaue, anstatt in mir meinen wichtigsten Referenzpunkt zu haben.

Wie wäre es, all die Gedanken daran, was ich tun müsste oder wie ich zu sein habe – wann immer es mir gelingt – mal loszulassen und mich wieder auf das zu verlassen, was ich tief in mir weiß, und dann zu schauen, wie sich mein Leben verändert?


Inspiriert von dem Artikel: You are more than a muscle

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  • Foto: Iris Pohl, Photographer and Videographer