Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt
Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt
Mein Vater bewegt sich in den letzten Jahren zunehmend tiefer in die Demenz. Das bringt zum einen Schwierigkeiten für ihn und die ihn umgebenden Personen mit sich, hat aber auch ganz überraschende, schöne und lehrreiche Momente, die manchmal verzaubern und berühren, dann wieder urkomisch und erfrischend frech sind oder auch tiefe Erkenntnisse ermöglichen.
Ein solches Ereignis hatten wir an Weihnachten, nachdem wir uns mit der Familie getroffen hatten, zu der meine 2 Brüder, unser Vater, meine Frau, meine Tochter und ihre Mutter, also meine Partnerin von vor 30 Jahren gehören. Der Abend war heiter und unbeschwert und mein Vater schwankte zwischen was machen all die Leute hier und ich will meine Ruhe haben und es aber doch genießen, sich aber nicht anmerken lassen wollen.
Nachdem wir gegangen waren und einer meiner Brüder mit ihm noch alleine zu Hause war, drehte sich mein Vater zu ihm und fragte: „Wer war denn diese Frau, die mit dabei war, nicht die Ehefrau, sondern die andere?“. Mein Bruder, schon gewöhnt an solch überraschende Fragen, antwortete ganz normal, dass das die A. war und dass er sie doch kenne. Kaum hatte er den Namen gesagt, ging mein Vater augenblicklich in 30 Jahre zurück liegende Erinnerungen und spulte seine gewohnte Litanei darüber ab, dass er A. ja nicht mögen würde. Als mein Bruder ihn unterbrach und fragte, ob er sie denn doof gefunden hätte, bevor er nun wusste, wer sie sei, meinte er „Nö, die war ganz normal und so... ".
Als mein Bruder mir das am nächsten Morgen erzählte, mussten wir herzhaft darüber lachen, war es doch nicht nur typisch für die unmittelbare Ehrlichkeit und Unschuld, die unser Vater seit der Demenz an den Tag legte, frei von Selbstdünkel und Eitelkeit, doch darüber hinaus offenbarte es ein klassisches Muster, das auf uns alle zutrifft, nämlich Personen mit Meinungen und Beurteilungen zu belegen aufgrund in der Vergangenheit gemachter Erfahrungen.
Wir halten die Person gebunden an etwas, das einmal stattgefunden und von uns in einer bestimmten Weise erlebt, interpretiert und abgespeichert wurde und verpassen dadurch, wer die Person im nächsten Moment, eine Woche oder 30 Jahre später ist.
Mein Bruder nennt es den „Neuro-Loop“, eine im Nervensystem programmierte Spule, die immer wieder dieselben Informationen durchlaufen lässt, sobald es einen Auslöser gibt, der das installierte Programm aktiviert.
Das ist so, als ob unser Hirn eine dieser altmodischen Jukeboxen ist, die zwar zahlreiche, aber eben doch nur eine begrenzte Anzahl von Musikschallplatten oder Songs bereithält und die durch Drücken der entsprechenden Zifferntasten dann aufgelegt und abgespielt werden. Und wie man ja auch so sagt, da leiern wir dann immer und immer wieder dieselben alten Schallplatten ab. Das ist nicht nur in Bezug auf Personen so, sondern auch auf bestimmte Geschichten und Ereignisse, die immer wieder aufs Neue erzählt werden, als ob noch keiner sie je zuvor gehört hätte. Und zu allem Überdruss läuft die Jukebox praktisch den ganzen Tag in unserem Kopf und malt uns unsere Realität, die wir dann auf die Welt projizieren.
So sehr wir es normal finden, in „Geschichten“ zu leben und daher das aktuell stattfindende Leben mit dem immer gleichen Erzählstrang zu belegen – also zu verfälschen oder korrumpieren – kann es keineswegs als normal betrachtet und akzeptiert werden. Es ist eine der wesentlichen Ursachen dafür, dass Kommunikation und Begegnung miteinander nicht wirklich funktionieren. Konkret bedeutet das, wir sehen und erkennen einander nicht für wer wir sind bzw. für was wir sind in jedem neuen Moment und finden uns in endlosen Missverständnissen und Fehlinterpretationen wieder, die dem Sprachgewirr des Turmbaus zu Babel in nichts nachstehen und als das tatsächliche, schon viel ältere Unverstehen bezeichnet werden dürfen.
Punkt ist, wir leben zumeist mehr in erdachten Geschichten als in der gegenwärtigen Realität, die wir vor lauter darauf projizierte Bilder, Emotionen, Bedürfnisse und Urteile nur verzerrt wahrnehmen – nichtsdestotrotz aber für die eine gemeinsame, nämlich DIE Realität halten.
Gelingt es uns, unsere Erzählstränge miteinander abzugleichen und auf eine gemeinsame Story zu einigen, wird diese spezielle Realität bestärkt. Umso mehr Autoren daran beteiligt sind, also an der Geschichte mitstricken, desto allgemein anerkannter und normaler ist die erschaffene Lebenswelt. Andere Realitätsnarrative können dann umso selbstverständlicher und selbstgerechter als ignorant, abstrus, unvernünftig oder sektiererisch abgetan werden.
Die aktuelle Corona Situation ebenso wie die nun schon fast 5 Jahre andauernde Brexit-Debatte inklusive der nun fast abgeschlossenen Verhandlungen geben uns dafür zahlreiche Beispiele. Begriffe wie Querdenker oder Verleugner erhalten eindeutig stigmatisierte Bedeutung, die von den Verbrämten mit Stolz getragen werden oder stoisch erduldet werden müssen. Renommierte Fachleute und Wissenschaftler aller Art kommen bei gleicher ‚Faktenlage‘ zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen und, man fragt sich, wie das geht, handelt es sich bei Fakten laut Duden doch um „etwas, was tatsächlich, nachweisbar vorhanden, geschehen ist; [unumgängliche] Tatsache“. Aha.
Auf den berühmten grünen Zweig kommt man dabei nicht, woher das auch stammen mag (irgendwas heidnisches oder auch lutheranisches, je nach Erzählung), aber apropos grün, wenn es um Global Warming und Umweltschutz geht, da findet auch eine solche Realitätsvielfalt statt bzw. es werden neue Erzählstränge formuliert und als Fridays for Future ins öffentliche Bewusstsein medialisiert. Und zu all diesen die Gesellschaft beschäftigenden News und historischen Ereignissen hat jeder von uns auch noch seine eigene Geschichte, die wir Meinung nennen. Na ja, und ein Recht auf freie Meinung ist eine feine Sache und so ziemlich das Letzte, was man sich nehmen lassen möchte. Und so erzählen wir uns selbst und einander Geschichten in Geschichten in Geschichten, ein ganzer Flickenteppich voller Erzählstränge, der die kollektive Wirklichkeit kreiert, in der wir dann leben.
Wie erfrischend ist da ein dementer Moment der Klarheit, der das ganze Konstrukt mal eben aus den Angeln hebt, sprich vom Haken der Verstrickung löst und ganz unbelastet und jungfräulich auf den gegenwärtigen Ist-Zustand blickt, so als wäre es das erste Mal, mit Kinderaugen sozusagen. Das soll jetzt nicht schön oder romantisch geredet werden, macht aber deutlich, dass solch aufweckende Momente dringend Not tun, um unsere vermeintliche Lebensrealität mal aufzuschütteln, die Absurditäten durchzuwirbeln und mit klarem frischem Blick ins Leben blicken zu können.
Jetzt ist das nichts, worauf man warten muss, bis es mal überraschend geschieht, sondern kann und sollte vielmehr ein aktiver Prozess sein, in dem man sich darum bemüht, seine eigenen Meinungen, Vorurteile, Projektionen und Dauerschlaufen zu hinterfragen.
Allein die Tatsache, dass zwei Menschen ein und dieselbe Situation anders wahrnehmen und auch anders damit umgehen, gibt Gelegenheit festzustellen, dass schon mal wenigstens eine andere Erlebnisweise und Möglichkeit verfügbar ist, die ich ausprobieren kann einfach nur, um mal die gewohnte Perspektive zu wechseln. Diese andere Sichtweise muss mir weder gefallen noch richtig oder besser sein als meine, aber sie ist anders und hilft mir, aus meinen Begrenzungen rauszutreten und mich selbst zu reflektieren.
Das wird immer bereichernd sein, auch wenn ich dann wieder zu meiner unveränderten Meinung zurückkehren sollte. Sozusagen den Horizont erweitern oder mal in die Schuhe eines anderen schlüpfen, das ist die simpelste Art, gelegentlich über den eigenen Tellerrand zu schauen. Und wenn es eine andere Perspektive gibt, dann gibt es wahrscheinlich noch ein paar mehr; ist doch zunächst mal erfrischend anders, aber auf Recht haben oder richtig sein wollen, muss für den Moment verzichtet werden, sonst klappt das nicht.
Eine andere Möglichkeit, die eigenen Stories und Sichtweisen zu überprüfen, besteht darin, sich zu fragen:
- Woher weiß ich eigentlich, was ich zu wissen glaube und als richtig oder normal annehme?
- Und stimmt es überhaupt, habe ich es gewissenhaft ergründet und überprüft?
- Oder passt es einfach gut in meine Weltsicht und wie ich mich mit dem Leben arrangiert habe?
Es kann verwunderlich bis positiv verstörend sein, die Antworten auf diese Fragen zu realisieren; und das ist nicht schwierig, haben wir sie doch praktisch sofort parat, sobald wir ehrlich fragen; wir wissen nämlich, warum wir tun, was wir tun, auch wenn wir es vor uns selbst zu verheimlichen suchen.
So erfrischend frei und frech das Pippi Lotta Motto „2 x 3 macht 4, Widdewiddewitt und Drei macht Neune !! Ich mach' mir die Welt, Widdewidde, wie sie mir gefällt ....“ sein kann, wenn man anfängt, sich von dem erstickenden Status Quo des Establishment zu befreien, beginnt, Dinge zu hinterfragen, es mal anders zu machen, was neues auszuprobieren und mehr und mehr sich selbst und dem eigenen Gefühl zu vertrauen, sollte man sich doch bewusst sein, dass es nur allzu leicht passiert, in ein anderes Narrativ zu verfallen.
Die Selbstüberprüfung ist nicht beendet, wenn man sich von etwas befreit hat, vielmehr ist es der Anfang für einen beständigen Prozess des sich Herausfaltens aus Schichten und Schichten von Erzählsträngen, in denen man verwickelt ist, ohne sich dessen bewusst zu sein, bis man ihnen schließlich begegnet. Umso mehr Schichten abgetragen sind, desto mehr kommt der eigene Kern, die innere Essenz, zum Vorschein und man entwickelt eine Beziehung zum Leben, die zunehmend weniger aus Projektionen und wechselseitigen Abhängigkeiten besteht. Man sieht tatsächlich die Dinge klarer, befreit von den Schleiern und Schablonen, von denen das Leben sonst umhüllt und verzerrt ist. Und das gilt übrigens nicht nur für die eigenen Schimären, man durchschaut auch die der anderen mit größerer Leichtigkeit.
Bleibt eine Frage offen, die man sich stellen mag.
Woher weiß man, dass die vermeintlich größere Klarsicht nicht auch nur wieder eine weitere Erzählung ist?
Diese Frage kann der Intellekt nicht beantworten. Und die Antwort kann er nicht verstehen.
Zuallererst bedarf es absoluter Ehrlichkeit.
Und zugleich der Verbundenheit mit der inneren Essenz, die in jedem Menschen gleich und gleichermaßen ist. Denn nur dort, weiß man mit Gewissheit.
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Bewusste Präsenz, Demenz, Kommunikation, Psychische Gesundheit, Verantwortung