Ein Brief an meinen Sohn

Vater und Sohn

Ein Brief an meinen Sohn

Willkommen, kleiner Mann in der Männer-Welt. Ich freue mich riesig, dass du bei mir bist, aber muss gestehen, ich bin auch ziemlich nervös, weil du jede Menge Entscheidungen vor dir hast.

Ehrlich gesagt wirst du in einer Art Minenfeld aufwachsen, weil es so viele Menschen gibt, die nicht wirklich wissen, was es bedeutet, ein Mann in dieser Welt zu sein. Hierfür wirst du unzählige Entscheidungsmöglichkeiten angeboten bekommen.

Großeltern, Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins, sogar deine Eltern werden versuchen, dir zu zeigen, worum es beim Mann-Sein geht. Zeitschriften, Filme, Werbung, die ganze Medienwelt werden irgendwann dann auch dabei mitmischen.

Wenn du zur Schule gehst, wirst du Jungen erleben, die sich schlagen und gegenseitig drangsalieren, Jungen, die dafür gemobbt werden, dass sie sensibel sind, Jungen, die scheinbar alles haben und andere, die nirgends dazugehören und isoliert sind. Du wirst Jungen sehen, die einmal genau so zart und gefühlvoll waren, wie du es jetzt bist und die hart werden, entweder weil sie andere tyrannisieren oder weil sie selbst schikaniert werden. In beiden Fällen wird es so scheinen, als ob du keine Wahl hättest – aber die hast du.

Wenn du dann älter wirst, wirst du oft zu hören bekommen, dass die einzig sinnvolle Beziehung zu Mädchen eine sexuelle ist. Du wirst ermutigt werden, bei Frauen einen „Treffer“ zu landen und mit deinen Eroberungen zu prahlen. Es wird dir so vorkommen, als ob du keine Wahl hast, wie du Frauen behandelst – aber die hast du.

Du wirst eine Gruppe von männlichen Freunden haben, die du deine Kumpel nennst. Kumpel sind die Leute, für die du alles tun würdest, mit denen du aber auch einige ungeschriebene Gesetze teilst, worüber du sprechen kannst und worüber nicht. In der Regel ist das eine besondere, aber nicht allzu tiefe Beziehung. Du wirst glauben, dass du keine Wahl hast, worüber du mit ihnen sprechen kannst – aber die hast du.

Vielleicht wirst du irgendwann einmal heiraten und Kinder haben. Dann wirst du aufgefordert sein, der „Ernährer“ zu sein. Der “Ernährer” oder “Versorger” zu sein bedeutet, dass du weniger Zeit mit den Menschen verbringst, die du magst, damit du sie „versorgen“ kannst. Es wird dir so vorkommen, als ob du keine andere Wahl hättest, als sicher zu stellen, dass "das Essen auf den Tisch kommt" –aber die hast du.

Dann wirst du das Rentenalter erreichen und du wirst eine Welt hinter dir lassen, in der du Ansehen und Einfluss hattest, und es wird dir so vorkommen, als sei dir alles weggenommen worden. Du wirst glauben, dass du keine andere Wahl hast, als dich davon zu schleichen – aber die hast du.

So ist es... Nicht besonders inspirierend, das weiß ich, aber es ist besser, realistisch zu sein, als dich für dumm zu verkaufen. Die Sache ist aber die... Der Weg, der für viele Männer gilt, funktioniert nicht, und es muss auch nicht dein Weg sein. Es kann schon sehr einschüchternd sein, gegen den Strom zu schwimmen, aber schau dir genau an, wie es für Männer läuft – der ausgetretene Weg, den die Masse geht, funktioniert nicht wirklich.

Du kannst dich jederzeit fragen:

„Kaufe ich der Welt ab, was sie mir anbietet, oder treffe ich meine eigenen Entscheidungen?“

Wenn du dir diese Frage stellst, ist es an dir, sie ehrlich zu beantworten. Mit Sicherheit kann ich dir sagen:

  • du wirst sie öfter stellen, als du denkst.

  • Die Antwort wirst du nicht in Männermagazinen, auf dem Sportplatz, am Boden eines Bierglases, einem Computerspiel oder auf der Spitze eines Berges finden...

Den eigenen Mann zu stehen, heißt nicht, isoliert von anderen zu sein oder smarter, fitter oder stärker als andere zu sein.

Den eigenen Mann zu stehen, heißt „Du selbst zu sein“, was auch bedeutet, deine Sensibilität zu würdigen sowie die Fähigkeit, deine Gefühle auszudrücken und die Fürsorge, mit der du für dich und andere da bist. Es ist die Entscheidung, dich selbst zu lieben – nicht die Version Mann, welche die Welt von dir erwartet, sondern dein wahres Selbst, die Qualität, die du schon bist, genau in diesem Moment.

Wenn ich dich betrachte, sehe ich dich, wie sensibel du bist, wie sanft du atmest und dich bewegst. Ich kann sehen, dass du weißt, was du willst und brauchst, kann sehen, dass du etwas in dir fühlst und erlebst, dass eine Freude in dein Lächeln bringt und das Zimmer erhellt. All das ist jetzt in dir und wird dich niemals verlassen.

Manchmal wird es dir so vorkommen, als ob sich dir keine Wahl bietet, aber das ist die Falle. Es ist nicht die Aufgabe der Welt, dir eine Wahl zu bieten. Vielmehr ist es deine Aufgabe, dir diese Wahl selbst zu ermöglichen. Wenn du das tust, wird dies zu deiner wahren Stärke als Mann und dir gut helfen, mit den Schlaglöchern und Unebenheiten auf deinem Weg zurechtzukommen.

Willkommen in der Männer-Welt, kleiner Mann. Ich freue mich riesig, dass du bei mir bist, und ich freue mich darauf, den Mann kennen zu lernen, der du bereits bist.


Frei übersetzt aus dem Englischen. Originalartikel: A letter to my Son.

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  • Foto: Rebecca W., UK, Photographer