Wieso denken wir Frauen überhaupt perfekt sein zu müssen?

Ich beobachte in letzter Zeit vermehrt ein Phänomen unter Frauen, was ich interessant finde, näher zu beleuchten - nicht zuletzt habe ich persönlich damit Erfahrung.

Es ist eine Mischung zwischen: ‘Wo ist der Fehler‘ und ‘noch nicht genug sein‘. Besonders, wenn Frauen in Gruppen zusammenkommen, spielt sich diese Dynamik aus und beschreibt eine Bewegung, die aus meiner Erfahrung auf so gut wie jede Frau übertragbar ist.

Zum einen geht es dabei um das immerwährende Streben an den Punkt X zu gelangen, an dem ich mir dann die scheinbare Absolution geben kann, endlich genug zu sein und zum anderen wird alles was auf dem Weg, was nicht dem Ideal des Punkt X entspricht, als Fehler deklariert.

In einfachen Worten: Ich bin noch nicht da, wo ich denke, dass ich zu sein habe.

Was wiederum ständig, durch ach die vielen Fehler und Imperfektionen, die Frau hat, bewiesen wird.

Der Blick auf mich selbst ist somit konstant defizitär.

Wieso denken wir Frauen überhaupt, dass wir perfekt sein müssen? In was haben wir uns eingekauft? Kann es sein, dass es eine absolute Lüge ist, die uns immer in dem Dauerstatus des Sich-nicht-voll/komplett-fühlens hält und wahre Vollendung vermeidet?

Wie giftig ist überhaupt die Annahme, dass es so etwas wie Perfektion gibt? Sie ist eine billige Kopie davon, was eigentlich Vollendung im wahrsten Sinne bedeutet.

Perfektion, im weltlichen Kontext, gaukelt einem ja eine Erfüllung vor. Wenn man diesen Punkt X erreicht hat, dann ist man erfüllt und dadurch unangreifbar. Man hat sozusagen ´alles richtig gemacht´.

Das Absurde daran ist ja, dass Perfektion etwas Subjektives, ein willkürliches Ideal ist und damit für jeden etwas anderes bedeutet. Für den einen mag es an einem Punkt perfekt sein, jemand anderer wird immer noch etwas zu bemängeln haben, da der Punkt X in seinem gelebten Wertesystem noch nicht erreicht wurde.

Wir hecheln somit einem kreierten Daseinszustand hinterher, der lediglich aus einem eigens entschiedenen und erschaffenen bzw. angenommenen Wertesystem entstanden ist. Perfektion wird von etwas außerhalb von mir bestimmt und misst sich dauernd mit anderen.

Irgendwer hat mal entschieden, dass du dann perfekt bist, wenn du z.B. ein gewisses Aussehen hast, in einem gemessenen Zeitraum X etwas erledigst oder die beste Note bekommen hast. Oder sei es, dass du nie aneckst, weil du Dinge erwartungsgemäß erledigst, dass sich niemand in deinem Umfeld auf die Füße getreten fühlt, weil du deine Art mit Menschen zu sein so perfektioniert hast.

Nochmal: Wer entscheidet überhaupt, was wann perfekt ist? Erfüllt ist. Ob es Mängel oder Fehler hat? Es wird sichtbar, welche Arroganz sich dahinter verbirgt, jemand anderen als nicht perfekt zu deklarieren, weil man sich selbst das Recht herausnimmt zu bewerten, wie ein anderer agiert, aussieht oder spricht u.s.w..

Die Sache mit der Perfektion ist ja auch die: in dem Moment, wenn du selbst oder ein anderer dein erwartetes Ideal erreicht hat, macht sich zwar ein kurzer Hochmoment breit, aber sehr schnell ist das dann schon wieder nicht mehr genug. Du kommst weder wirklich bei dir selbst an, noch nimmst du dein gegenüber wirklich an.

Wenn Perfektion eine Wahrheit wäre und uns tatsächlich glücklich machen würde, warum erreichen wir dann nie einen Punkt, an dem das Gefühl von wahrer Freude permanent vorherrscht? Warum finden wir, nach einem kurzen Triumph, immer wieder sofort die nächste Baustelle, an der wir uns abarbeiten können? Sei es, z.B. Fähigkeiten immer exzessiver zu trainieren und damit zu perfektionieren oder sei es an seinem Aussehen zu experimentieren und dieses (äußerlich) zu optimieren. Es ist eine Bewegung, die uns nie wirklich zur Ruhe kommen lässt.

Irgendwo lässt sich immer noch etwas finden, was optimiert oder verbessert werden könnte. Hört sich alles sehr anstrengend an - ist es auch. Also was haben wir eigentlich davon perfekt zu sein?

Das Streben nach Perfektion hält uns in Daueranspannung und in einer immerwährenden Idee davon, höchsten, gesellschaftlichen Vorstellungen zu entsprechen, um somit die größte Belohnung zu erhalten: Sicherheit und Unantastbarkeit.

Keiner kann mich mehr angreifen, mir wirklich nahekommen oder hinterfragen, wenn ich den höchsten Werten der Gesellschaft entspreche und danach lebe. Ich kann mich dann entspannt in meine Höhle zurückziehen und keiner hat das Recht, auch nur daran zu denken, mich da irgendwie hervorzulocken, um am Leben wirklich teilzunehmen und mich zu zeigen, wer ich wirklich bin. Außerdem kann ich mich über andere Menschen stellen, Macht ausüben, ohne dass jemand etwas gegen mich unternehmen könnte.

Wir Menschen befinden uns in einem ständigen, unausweichlichen Entwicklungs- und Vertiefungsprozess und lernen somit dauernd hinzu. Dadurch wird es so genannte ´Fehler´ immer geben – großartige Möglichkeiten, durch die wir bekanntlich am meisten lernen können.

Da ist jedoch genau der Casus Knacksus:

Meines Erachtens sollten wir hinterfragen, das Wort ‘Fehler‘ negativ zu belegen oder überhaupt mit dieser Bedeutung in unserem Wortschatz zu nutzen, denn alles was wir erleben, was wir eben noch nicht gemeistert haben, wird uns nicht selten durch ´Fehler´ bewusst.

Ein Fehler, der eben gar kein Fehler ist.

Im Gegenteil, eine wundervolle Möglichkeit sich und andere tiefer zu verstehen, weil sich Muster, Bilder oder Glaubenssätze aufzeigen, die sonst nicht aufgefallen wären. Es gibt also gar keine wirklichen Fehler.

Wenn ich versuche perfekt zu sein und mir somit keine Momente des Lernens einräume, kann ich nicht wirklich tiefergehen mit allem, was sich mir im Leben zeigt. Stattdessen befinde ich mich im Dauerreaktionshamsterrad und unternehme alles Erdenkliche, um den Schein zu wahren.

Viele Frauen sind mittlerweile so ehrlich und sagen selbstreflektierend, dass sie diesen Drang nach Perfektion in sich tragen und fühlen – was wäre jedoch, wenn dieser Drang niemals zu uns Frauen gehört hat. Eben nicht in uns drin ist, sondern wir uns ganz bewusst dafür entscheiden? Ein Elfenbeinturm, der tatsächlich ein Gefängnis ist, in das wir uns selbst gesperrt haben, weil wir dachten, dass es uns Schutz gewähren würde.

Was vermeiden wir denn wirklich, wenn wir uns ganz bewusst entscheiden, uns in diesem, nicht selten selbstzerstörerischen Zyklus zu bewegen?

Wissen wir vielleicht mehr, als wir uns eingestehen, um die Weisheit, die allen Frauen natürlicherweise innewohnt und die Welt verändern würde, wenn wir ihr nur Ausdruck verleihen würden?

Da uns Frauen die Ganzheit unseres Seins nicht vorgelebt wurde, und wir nicht gelernt haben sie in jedem Moment zu umarmen und zu akzeptieren, sind wir für die billige Kopie gefallen – die Perfektion.

Perfektion lässt uns gegenüber dem Schmerz des in uns Getrenntseins abstumpfen und bringt uns irgendwie konform und zumindest unangreifbar durchs Leben. Die entstandene Lücke in uns selbst schien dadurch gefüllt, dabei ist lediglich ein Deckel drauf.

Perfektion = Fehlerfreiheit oder Makellosigkeit

Vollendung = Vervollkommnung

Sie ´verkaufen´ beide scheinbar dasselbe Endergebnis und erscheinen dadurch ähnlich. Aber es erscheint nur so, denn wenn man die beiden Zustände auf sich wirken lässt, fühlt man, wie sie sich komplett unterscheiden. Welcher Zustand beschreibt wahre Stille und Zufriedenheit:

  1. Perfektion, die unersättliche Sucht und Suche nach Erfüllung fremd- und selbstbestimmter Wertesysteme, an denen wir uns ständig abgleichen
oder
  1. Vollkommenheit, die in jedem Moment das Gefühl des Genug-Seins offeriert, wissentlich, dass wir uns auf einem Weg befinden, der mit nichts und niemanden verglichen werden kann?

Perfektion macht einsam. Vollkommenheit inspiriert andere und vereint.

Wahre Vollendung oder wahres Komplett-Sein hat nichts mit äußerlich gesteckten Richtlinien zu tun. Irgendwo jemals anzukommen ist eine Illusion, die das Bewusstsein der Perfektion uns verkauft. Wir sind uns immerwährend am verändern, zurück zum Ursprung unserer Essenz. Gibt es also nie so etwas wie ein Ende? Korrekt, selbst in dem Komplett-Fühlen wird es immer ein tieferes Verständnis darüber geben, dass wir uns beständig weiterentwickeln. Der große Unterschied zu Perfektion liegt jedoch darin, dass wir uns dabei nicht fehlerhaft fühlen oder meinen, noch nicht genug zu sein.

Wie geht das?

Es gilt Situationen in Fülle abzuschließen.

In diesen Momenten der Fülle bin ich alles und genug. Alles, was zu diesem Zeitpunkt möglich war.

Und selbst wenn mir Dinge bewusst werden, die noch angeschaut werden wollen und man loslassen darf, ist alles in diesem Moment fertig und komplett.

Ich fokussiere mich auf alles, was da ist und nicht das, was alles nicht ist.

Das Leben wird mir immer wieder Momente schenken, in denen ich mehr erkennen und lernen darf. Somit darf das, was JETZT ist, einfach absolut komplett sein.

Das Fatale ist, wenn wir diesen Schritt der Komplettierung und damit das Abschließen übergehen, stattdessen in Reaktion gehen und uns als fehlerhaft empfinden bzw. dass wir etwas nicht richtig gemacht haben, vermeiden wir den Zustand der Fülle. Hinzukommt, dass dieser entscheidende Moment der Sattheit energetisch schon den nächsten Evolutionsschritt einläutet.

Es gibt eben keinen Moment von: ´So jetzt bin ich fertig´. Aber es gibt das Gefühl von Vollendung im Prozess des ewigen Ausdehnens.

Wie jetzt? – Also so etwas wie Perfektion gibt es nicht, aber voll kann man sich zu jeder Zeit fühlen, auch wenn das nicht mit einem tatsächlichen Endpunkt zu tun hat?

Jeder Moment ist so reich an Erkenntnissen, wir als Frauen sind solch kraftvolle Wesen!

Was wäre, wenn wir uns nicht an ein kreiertes Ideal oder Bild verschwenden würden und stattdessen unserer wahren Kraft Ausdruck verleihen würden? Wenn wir uns aus der Kralle der Perfektion herauslösen würden, der wir einst vollen Zugriff auf uns gewährt haben? Wenn wir damit in die Verantwortung treten würden, um auch anderen Frauen zu reflektieren, wie großartig sie sind?

Perfektion ist pure Illusion, zu der wir uns verschrieben haben, um uns weiterhin im Zyklus der Entmachtung und Kraftlosigkeit zu bewegen. Sie ist der Gegner und das armselige Replikat des wahren Zyklus: Der ewigen und stets wiederkehrenden Vollendung und des Ausdehnens, welche uns immer tiefer mit unserer innewohnenden Kraft verbindet, der wir entstammen.

Gelistet unter

Alterslose WeisheitFrauengesundheitSelbstwertVerantwortungZyklen

  • Von Steffi Henn