Unsere negativen emotionalen Reaktionen

Woher kommt es, dass wir auf andere Menschen häufig mit Emotionen, Verletzungen, Enttäuschung, Wut, Ärger, Genervtsein etc. reagieren und können wir daran eigentlich etwas ändern?

Ist es nicht so, dass wir alle im Grunde das Gleiche wollen? Ein erfülltes Leben mit gesunden Beziehungen und so eine Art festes Fundament, das wir in uns fühlen können – durch das wir mit anderen in Harmonie sein und leben können und das eine gute Kommunikation in all unseren Beziehungen möglich macht?

Ich persönlich wollte so etwas mein ganzes Leben lang und hatte trotzdem immer das Gefühl, dass es einfach nicht funktioniert, egal was ich tue. Immer wieder entstehen Probleme und Konflikte mit anderen, in der Familie, mit dem Partner, Kollegen etc., obwohl man es innerlich eigentlich gar nicht möchte. Und das Spannende ist: es geht anderen genauso. Keiner möchte sich über andere ärgern, Streit oder die berühmte dicke Luft haben. Es fühlt sich einfach furchtbar an, die Gedanken drehen sich ständig darum, so dass man in vielen Situationen nicht mehr gut bei sich sein kann und oft dauert es lange, bis man einen Weg heraus findet oder es passiert sogar, dass Beziehungen komplett abbrechen. Aber was steht einem harmonischen Zusammenleben eigentlich im Weg, wenn es doch im Grunde jeder möchte?

Einer der Hauptgründe, warum unsere Beziehungen oft so problematisch sind, ist definitiv, dass wir dazu neigen, auf bestimmte Dinge in Reaktion zu gehen und dann sozusagen in dieser Reaktion steckenbleiben. Mit dem Ausdruck in Reaktion gehen, meine ich, dass man auf etwas emotional (negativ) reagiert, also z.B. mit Genervtsein, Wut, Enttäuschung, Verletzung etc.

Kennen Sie das nicht auch, dass ihr/e Partner/in oder jemand aus ihrer Familie etwas zu Ihnen sagt und Sie, obwohl Sie es im Grunde nicht wollen und die Emotion, die Sie dann überrollt, sich überhaupt nicht gut anfühlt, sofort verletzt oder beleidigt sind, wütend und abweisend werden und sich innerlich von der Person zurückziehen?

Bei mir sind es immer wieder ähnliche Dinge, die diese Reaktion auslösen können, z.B. wenn jemand über mich bestimmen will oder wenn mir jemand den ich liebe das Gefühl gibt, ihm oder ihr nicht wichtig zu sein. Vor allem, wenn sich negative emotionale Erfahrungen aus der Vergangenheit auf ähnliche Weise wiederholen, tat es mir oft besonders weh oder ich wurde noch viel schneller ärgerlich.

Wie oft bin ich danach solche Momente gedanklich auch noch immer wieder durchgegangen, habe überlegt, was ich der Person eigentlich alles hätte sagen sollen und bin dabei noch ärgerlicher oder enttäuschter geworden. Wenn man sich fragt, warum man das eigentlich tut, obwohl es einem dadurch im Grunde noch schlechter geht, ist es oft schwer, darauf eine Antwort zu finden. Warum kann man solche Dinge nicht einfach rauswerfen und warum reagiert man überhaupt so heftig, wenn es einem selbst weh tut und dadurch nur mehr Kälte in Beziehungen entsteht?

Selbst in den liebevollsten Beziehungen scheint immer die Gefahr zu bestehen, dass man in Reaktion geht, und dass manchmal sogar übertrieben stark und unverhältnismäßig. Ich wurde in solchen Situationen immer wieder extrem emotional oder bin regelrecht explodiert. Vermutlich haben Sie es selbst bereits des Öfteren erlebt, dass man erst später in der Lage ist, die Situation klarer zu sehen, aber im Moment der Reaktion selbst meinte, gar nicht anders zu können. Aber was passiert da eigentlich genau zwischen mir und der anderen Person, wenn wir so in Reaktion gehen?

Da solche Situationen in Beziehungen eines der Hauptthemen ist, die ich als Psychotherapeutin mit meinen Klienten bespreche, und ich solche Situationen auch immer wieder selbst in der Vergangenheit erlebt habe, habe ich mich bereits viel mit diesem Thema auseinandergesetzt und was ich dazu sagen kann ist, dass jegliches emotionales Überreagieren durch persönliche Verletzungen ausgelöst wird, die wir mit uns herumtragen.

Frisch geboren und ohne die vielen negativen Lebenserfahrungen, die wir später dann mit uns herumtragen, scheinen wir noch tief mit unserem Inneren verbunden zu sein und deshalb auch das Wissen in uns zu tragen, dass wir Liebe sind, denn obwohl wir diese Dinge noch nicht mit dem Verstand begreifen können, empfinden wir es bereits als Säuglinge als schmerzhaft, wenn wir nicht aufrichtig geliebt und auch dementsprechend behandelt werden. Wir nehmen wahr, wenn wir nicht als die wunderbaren und kostbaren Lebewesen gesehen werden, die wir nun mal sind, oder wenn in unseren Eltern oder unserer Familie keine wahre Liebe präsent ist. Der Schmerz über solche Erfahrungen wird von Beginn an in uns abgespeichert. Die Tatsache, dass dies so ist, zeigt ganz klar, dass wir bereits Liebe kennen und diese in uns tragen, wenn wir geboren werden, denn sonst könnten wir diese Erfahrungen gar nicht als verletzend erleben.

Ich persönlich finde dies sehr faszinierend. Viele meiner Klienten haben mir berichtet, dass sie sich schon ungeliebt fühlten, bevor sie sprechen oder laufen konnten und dass sie, wenn sie sich ins Alter von 1-2 Jahren zurückversetzen, sofort tiefen Schmerz und Traurigkeit spüren.

Tatsächlich sind die Verletzungen, die wir mit uns herumtragen sehr simpel: wir alle sehnen uns inständig danach, wirklich gesehen und bedingungslos und aus ganzem Herzen geliebt zu werden, und zwar für das, was und wer wir wirklich sind. Deshalb fühlen wir tiefen Schmerz und eine tiefe Verletzung, wenn wir in unseren Beziehungen nicht auf diesem Level geliebt werden.

Diese Verletzungen häufen sich, fühlen sich dann immer vertrauter an und führen bei sehr vielen Menschen zu einer inneren Traurigkeit. Einigen Menschen, die ich kenne, ist diese Traurigkeit sehr wohl bewusst, sie können sie spüren, wenn auch nicht in vollem Ausmaß, und anderen wiederum nicht, weil sie sie mehr oder weniger unbewusst unterdrücken, um den Schmerz, der damit verbunden ist, nicht fühlen zu müssen. Ein Klient hat mir beispielsweise einmal gesagt, „Irgendetwas stimmt mit mir nicht, das merke ich, aber ich kann einfach nicht greifen, was es ist.“ Als in ihm dann ein Bewusstsein über den tatsächlichen Schmerz entstand, weil er erkannte, dass er sich von Anfang an völlig alleine gelassen und unverstanden gefühlt hatte, musste er sehr stark weinen, was er zuvor über sehr viele Jahre nicht getan hatte.

Keiner möchte seine Verletzungen fühlen – deshalb ist emotionales Überreagieren in schwierigen Situationen eine scheinbare unbewusste, aber durchaus beabsichtigte und sehr willkommene Möglichkeit, sich davon abzulenken.

Dies mag vielleicht für Sie etwas zynisch klingen, aber im Grunde ist es genau das, was wir tun, um unseren Schmerz nicht fühlen zu müssen. Ich persönlich habe diese Erfahrung schon oft gemacht. Wenn ich mich verletzt gefühlt habe, war häufig der erste Impuls, mich zu verteidigen und zu rechtfertigen, einen „Gegenangriff" zu starten und Recht haben zu wollen, um mich nicht klein zu fühlen.

Meist lösen Emotionen wie Frustration, Ärger, Enttäuschung und Traurigkeit solche Reaktionen aus. Immer wieder kreieren wir gedankliche Endlosschleifen rund um die Geschichte unserer Verletzung und schleppen diese mit uns herum. Wenn in der Zukunft dann erneut eine Verletzung dieser Art passiert, kommt es schnell dazu, dass wir dem Gegenüber die alte Verletzung nochmal „mit aufs Butterbrot schmieren“, wie man so schön sagt. Ich habe das jedenfalls schon des Öfteren getan, obwohl ich selbst genau weiß, wie mies es sich anfühlt, wenn umgekehrt jemand so etwas bei mir macht. Was Sie vermutlich auch kennen ist, dass Sie „dichtmachen“, sich zurückziehen und nicht mehr mit dem Gegenüber sprechen möchten oder im Gegenteil die andere Person vielleicht sogar anschreien.

Es gibt viele typische Verhaltensweisen, die wir entwickeln, um mit emotional belastenden Situationen umzugehen. Im Folgenden sind einige davon aufgelistet; vielleicht erkennen Sie sich ja in manchen dieser Muster wieder:

  • nachlässig und desinteressiert werden
  • „drüber“ zu sein mit einer starken inneren Nervosität, die dann zu übertriebenem Aktionismus führt (z.B. putzen, schnelles Auf und Abgehen u.v.m.)
  • sich mit Alkohol betäuben
  • dem Alltag mit Drogen entfliehen
  • viel zu viel essen, häufig auch Süßigkeiten
  • Soziale Medien wie Facebook oder Fernsehen benutzen, um sich nicht mit seinen Gefühlen auseinandersetzen zu müssen
  • Ablenkung durch Einkaufen
  • uns „in unsere Höhle“ zurückziehen
  • Kritisch und verurteilend werden

Diese Reaktionen können so bei uns eingebrannt sein, dass sie sich geradezu komfortabel anfühlen – auf jeden Fall deutlich 'besser' als die ursprünglichen Verletzungen.

Nicht fühlen zu wollen, was wir fühlen, das kennen Sie sicherlich – wer möchte schon fühlen, dass Vater oder Mutter keine richtige Verbindung mit uns hatten ... oder dass unser Partner uns nicht aufrichtig verehrt und wertschätzt ... oder dass unser Fass kurz vor dem Überlaufen ist, wir uns nervös, hart und angespannt fühlen?

Wie oft war ich in Situationen, in denen ich nichts anderes wollte, als meinen Schmerz nicht mehr spüren zu müssen? Und wie präzise ich jedesmal weiß, was zu tun ist, um mir Erleichterung zu verschaffen, wie bestimmte Sachen, z.B. Schokolade zu essen, am besten noch vor dem Fernseher, damit ich beim Essen der Schokolade bloß nicht nachdenken muss. Eine solche „Doppelkombination“ ist für mich eine 'gute Soforthilfe', nur leider muss ich zugeben, dass es nichts am tatsächlichen Schmerz oder der schwierigen Situationen, in der ich mich gerade befinde, ändert. Da ich vermute, dass Sie diese Erfahrung auch schon häufiger in ähnlicher Art und Weise gemacht haben, werden Sie mir da sicherlich zustimmen können.

Herausfordernd, sich das anzusehen, oder? Aber wenn wir ehrlich damit sind, können unsere Reaktionen uns tiefere Einsichten über uns selbst offenbaren:

  • dass wir uns nicht akzeptiert oder verstanden fühlen
  • dass wir das Gefühl haben, nicht (gut) genug zu sein
  • dass wir nicht darauf vertrauen, dass alles im Leben gut werden wird
  • dass wir uns nicht geliebt fühlen

Mir lediglich dieser Gefühle richtig bewusst zu werden, hatte in der Vergangenheit eine tolle medizinische Sofortwirkung auf meine reflexartigen Reaktionen und Verhaltensmuster. Ich nehme mal das Beispiel, dass ein enger Freund vergisst mich anzurufen, obwohl er es fest versprochen hat und ich deshalb verletzt und enttäuscht bin. Wenn ich es schaffe, mir in diesem Moment bewusst zu machen, dass damit ein alter Schmerz in mir ausgelöst wird, anderen nicht wichtig zu sein und nicht geliebt zu werden, ist es möglich meine Verletzung sofort wieder loszulassen, anstatt in ihr steckenzubleiben. Dafür muss ich mir nur bewusst machen, dass das Vergessen des Anrufs höchstwahrscheinlich nichts damit zu tun hat, dass der Freund mich nicht mehr mag und dass meine unbewusste Verknüpfung der Situation mit altem Schmerz in mir eine übertrieben starke emotionale Reaktion auslöst.

Ein klareres Bewusstsein über den Ursprung meiner emotionalen Reaktionen zu entwickeln, hat mir sehr dabei geholfen, mehr Verständnis zu haben und auch Mitgefühl (kein Selbstmitleid!) für die Verletzungen zu haben, die ich und auch die Menschen um mich herum mit sich herumtragen; und es hat die Kommunikation in meinen Beziehungen entscheidend beeinflusst und verbessert.

Beispielsweise gab es zwischen mir und meinem derzeitigen Partner noch nie einen Konflikt, bei welchem einer von uns laut geworden ist oder nicht mehr mit dem anderen gesprochen hat. Ehrlich darauf zu schauen, warum wir gerade stark reagieren und über den tatsächlichen Schmerz zu sprechen, anstatt über das, was passiert ist – z.B. über das Gefühl oder die Angst zu sprechen, dem anderen nicht wichtig zu sein, als über den Ärger, dass er/sie schon wieder vergessen hat, was ich ihm /ihr erst kürzlich gesagt habe – hilft sehr dabei, unsere Schwierigkeiten in Beziehungen zu klären.

Je mehr wir von unserer Geschichte verstehen und begreifen, was in uns den Impuls auslöst, übertrieben emotional zu reagieren, und warum dies geschieht, desto mehr können wir auch unsere wahren Gefühle ausdrücken.

Das würde in dem eben genannten Beispiel, dass ein Freund vergessen hat anzurufen so aussehen, dass ich ihm keine Vorwürfe mache, weil er den Anruf vergessen hat, sondern ihm sage: „Dass du nicht angerufen hast, war schwierig für mich, weil ich dadurch das Gefühl bekommen habe, dass ich dir nicht wichtig bin und deshalb verletzt war.“

Wahrscheinlich kann sich jeder denken, dass der Freund einem dann versichern würde, dass man ihm sehr wohl wichtig ist und sich vielleicht sogar entschuldigen. Manchmal gilt es lediglich beim ehrlichen Äußern der eigenen Traurigkeit oder Verletzung, die Angst zu überwinden dann von der anderen Person wieder verletzt zu werden. Letzteres geschieht aber mit Sicherheit eher dann, wenn wir nicht ehrlich darüber sprechen, weil dadurch oft eine Distanziertheit in Beziehungen entsteht, aus welcher schnell weiteres Konfliktpotential erwächst. Wichtig war für mich auch, die Gelassenheit zu entwickeln, mich nicht für die eigenen Gefühle und Verletzungen, die ich in mir trage, zu schämen, denn wir alle haben sie und es geht einfach nur darum, einen guten Umgang damit zu finden.

Dies hat bei mir letztlich zu einem viel größeren Selbstbewusstsein geführt, weil ich mich besser, tiefer und umfassender verstehen gelernt habe – und daraus mehr wahre, ehrliche, liebevolle und effektive Kommunikation in meiner Beziehung mit mir selbst und mit anderen entstanden ist, und ich in der Folge keine Angst mehr davor habe, enttäuscht oder verletzt zu werden, weil ich weiß, dass es einen guten Weg gibt damit umzugehen. Diesen Weg habe ich bereits vielen Menschen aufgezeigt, die ihn genauso wie ich als große persönliche Weiterentwicklung erleben. Und Sie können sich ganz gewiss auch davon befreien, sich als Opfer ihrer emotionalen Reaktionen zu erleben. Daran habe ich überhaupt keine Zweifel.


Dieser Artikel ist inspiriert von dem Englischen Artikel: Our tendency to react.

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  • Foto: Iris Pohl, Photographer and Videographer