Realität ist was man draus macht

So bin ich eben. So ist das. So muss man das machen.

An diesen und noch diversen weiteren Glaubensätzen und Idealen habe ich lange Zeit mein Leben ausgerichtet. Ich war überzeugt davon, dass wenn ich alles richtig mache, irgendwann ein Punkt von Ruhe und Zufriedenheit eintreten müsste und sehnte mich genau danach.

Doch auch mit 30 war mir dieser Punkt nicht annähernd begegnet. Im besten Fall hatte ich etwas zwar plangemäß erreicht, hielt mir dann aber umgehend vor, dass ich noch deutlich mehr erreichen könnte, oder schaute nach dem nächsten Ziel. Meistens aber fand ich – egal was ich gerade geschafft hatte – vieles an mir, dass ich kritisieren und falsch finden konnte.

Rückblickend muss ich sagen: ich verachtete mich selbst. Aber hätte man mich damals darauf angesprochen, hätte ich das vehement abgestritten. Ich konnte es zwar partout nicht leiden von außen kritisiert zu werden, ignorierte aber völlig, dass in Wirklichkeit ich selbst mein schärfster und unfairster Kritiker war.

Je mehr es innerlich in mir bröckelte und wackelte, desto wichtiger wurden die Ziele und Belohnungen von außen und das Hinleben auf den einen erträumten Moment, der alles verändern würde - ich erschuf mir so quasi eine eigene, parallele Realität.

Es war wie eine Flucht aus mir heraus, hin zu etwas, das ich vermeintlich lenken und beeinflussen konnte. Etwas, das Sicherheit versprach.

Hätte ich damals das, was ich an mir und anderen kritisierte wirklich verändern wollen, hätte ich tief in mir genau gewusst, wo der Hase im Pfeffer lag, ergo, wo ich hätte ansetzen können. Aber dazu hätte es einer wirklichen Ehrlichkeit bedurft. Einer Ehrlichkeit und Bescheidenheit, die offen gewesen wäre dafür, dass es nicht die Welt ist, die gemein zu mir ist, sondern ich selbst.

Da dies so intensiv mit Falsch-Sein belegt war – quasi einer Todsünde –, war ich lieber bereit mich zu belügen, als anzuschauen wie sehr ich für das Aufrechterhalten dieser Lügen mich selbst und andere traktierte. Die Scham vor mir selbst war so groß, dass Ehrlichkeit an dieser Stelle einfach nicht in Frage kam und ich bereit war, nahezu alles zu tun, um mich und mein Leben nicht wirklich anschauen zu müssen.

Aber das immer ehrlichere Anschauen erwies sich letztlich als der Beginn, diesem Muster die Kraft zu nehmen. Bis ich dazu ganz bereit war, ging es noch einige Jahre tiefer in den Sumpf des Verdrängens hinab.

Auslöser zu Stoppen war, als ich meinen heutigen Ehemann und einige Monate später Serge Benhayon traf und damit zwei völlig fremden Menschen begegnete, bei denen ich mir schon beim ersten Blickkontakt einfach nicht weg lügen konnte, wie viel mehr sie von mir hielten, als ich es selbst tat.

Die kritiklose Wertschätzung, die mir durch die beiden begegnete, ließ mich stoppen und nach und nach ehrlicher anschauen, in welchen Sumpf ich mich hinein bewegt hatte. Ich begann Stück für Stück zu erkennen und zu begreifen, mit was für einer Härte und einem Druck ich mir selbst begegnete und welchen Preis ich und alle anderen Menschen in meinem Leben für meine verkrampfte Jagd nach Sicherheit zahlten. Denn meinen Frust und die Härte, mit der ich hinter einer immer-freundlich-angepassten Fassade versuchte dafür zu sorgen, dass ich nun endlich sicher wäre, den bekam jeder um mich herum zu spüren. Nicht mit boshafter Absicht, aber sehr deutlich und unverkennbar in allem, was ich tat.

Diese wachsende Bewusstheit über die Tragweite jeder kleinen Handlung weckte die Kraft in mir, Dinge wirklich anders zu machen und „Fehler“ nicht mehr als Todsünde zu sehen, sondern als Gelegenheit, etwas zu lernen. Mir wurde bewusst, wie viel Kraft in mir schlummerte und parallel begann irgendwann die Selbstverachtung, sich Schritt für Schritt in Wertschätzung für mich und andere zu verändern.

Es war so leicht, Punkte zu finden, die ich an mir und anderen kritisieren konnte, aber wenn ich wirklich hinschaute, gab es viel mehr, was eigentlich völlig in Ordnung und sogar ehrlich gesagt sehr schön war. Wenn ich mir und anderen mit dieser Wertschätzung als Basis begegne, wird Kritik hinfällig. Hinfällig, da das vermeintlich so kritisch zu Betrachtende entweder im Verhältnis zu allem anderen völlig belanglos ist, oder hinfällig, weil die Kritik keine Kritik mehr ist, sondern eine Anregung, etwas anderes zu betrachten. Eine Anregung ohne Urteil, ohne Erwartungen, ohne richtig und falsch und mit Verständnis für die Situation, in welcher der andere sich befindet – und manchmal auch unausgesprochen, einfach durch Vorleben.

Das „Falsch-mach-Monster“ in mir ist noch nicht erlegt, aber es zeigt sich deutlich seltener und weniger nachhaltig. Und doch finde ich es erschreckend, wie tief ich in solchen Momenten immer noch in den Spuren eines katholischen Konzepts von Sünde und Falschsein verhaftet bin, von dem ich immer glaubte, es nie übernommen zu haben.


Durch die Art, wie wir Glaubenssätze und Ideale leben, erschaffen wir neue Realitäten: die sogenannten Weltreligionen, nationale Ideale, kulturelle Ideale, Erziehungskonzepte, Ernährungskonzepte, Körperideale, ...


Diese sind zwar eigentlich fiktiv und keineswegs wahr, aber dennoch sehr real und haben massiven Einfluss auf alle. Sie schaffen Trennung und prägen das Leben auf der Erde für uns und die nachfolgenden Generationen nachhaltig.

Ich bin aber weder einem Glaubenssatz, noch einem Ideal, noch „der Welt“ oder einem Zeitgeist ausgeliefert. Indem ich selbst ehrlicher werde, und anfange, Stück für Stück mein Leben zu verändern, schaffe auch ich eine Realität und mache etwas für andere sichtbar.

Als ich das in mir wirklich verstanden hatte, begriff ich, was für ein Potential für alle Menschen in dem liegt, was ich vorher als Nichtigkeiten abgetan hätte. Jeder Schritt und jede Bewegung von mir kann einen Menschen, der das wahrnimmt, weiterbringen. Einfach weil er sieht, dass es auch eine andere Möglichkeit gibt.

Die Sicherheit und Zufriedenheit, nach der ich so lange gestrebt habe, habe ich gefunden, doch ganz anders als erwartet. Heute vertraue ich mir und mag mich genauso, wie ich bin und diese sehr reale Basis in meinem Alltag ist sicherer und schöner als alles, was ich mir jemals hätte erträumen können.

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  • Foto: Iris Pohl, Photographer and Videographer