Keine Zeit zu leben

Wir sind jeden Tag mit einem hohen Anspruch an Effizienz konfrontiert – alles muss möglichst sofort, schnell, pünktlich und fehlerlos erledigt werden. Welche Auswirkung hat das auf uns und unser alltägliches Leben?

Wir setzen uns zunehmend selbst unter Druck und rennen nur noch von A nach B, um das Nächste und das Nächste und das Nächste zu erledigen. Dabei entsteht das Gefühl, gegen die Zeit anzurennen und am Ende des Tages haben wir unser Leben gelebt – aber ohne uns. Wir waren darauf fokussiert, Dinge zu erledigen, eigenen und äußeren Ansprüchen gerecht zu werden, Termine einzuhalten und haben uns vielleicht auf die Schulter geklopft, wenn wir mehr erledigen konnten, als wir geplant hatten.

Wenn wir uns am Ende des Tages erschöpft oder ausgebrannt fühlen, sind wir nicht selbst dabei auf der Strecke geblieben?

Denn sollten wir bei B ankommen und uns nicht erinnern können, wie wir dahin gekommen sind, waren wir abwesend und haben kostbare Zeit unseres Lebens verloren, wir haben diesen Moment schlicht verpasst und waren nicht Teil unseres eigenen Lebens.

Dort, wo wir dann ankommen, fühlen wir die Leere, die entsteht, wenn wir ohne uns selbst unterwegs sind. Wenn wir dann versuchen, diese Leere möglichst schnell wieder zu füllen - mit noch mehr Effizienz, Essen, Alkohol, Kaffee, jeglichen Formen der Ablenkung, etc. setzen wir das Hamsterrad damit erneut schwungvoll in Bewegung...

Wir ernten womöglich Anerkennung und Respekt, wenn wir viel getan haben. Die Zeit, die wir jedoch in Ruhe verbringen, um uns zu regenerieren, wird offenbar nicht angerechnet oder wertgeschätzt – sie zählt nicht, da wir glauben die Zeit eher nicht sinnvoll genutzt zu haben. Am besten wäre es anscheinend, wir könnten wie Maschinen Tag und Nacht weiterfunktionieren.

In dem Moment, wenn wir mit diesem unmenschlichen, überreizten Anspruch und Tempo nicht mehr mithalten können oder wollen, werden wir – meistens als erstes von uns selbst - als alt, krank, schwach, faul oder falsch eingestuft. Wir haben diese Bewertungen schon früh in unserem Leben gelernt und die meisten möchten selbst auf keinen Fall in einer dieser Schubladen landen.

Auch in unserer Freizeit funktionieren wir oft auf die gleiche Weise weiter, bleiben in demselben Modus und sind deshalb nicht ganz präsent, denn die Gedanken sind bereits woanders. Wir laufen einfach weiter in demselben Hamsterrad.

Dies führt dazu, dass wir ständig das Gefühl haben, das Leben schuldet uns etwas und wir bräuchten mehr Freizeit, mehr „Zeit für uns“. Aber verbringen wir diese Zeit wirklich in Verbundenheit mit uns aus oder ohne uns und in Gedanken ganz wo anders?

Wenn wir uns jedoch die Zeit, uns selbst zu besinnen und zu genießen, nicht mehr wirklich erlauben, geht uns auch das Gefühl für Qualität verloren:

Wir beginnen dann, alles entweder so zu erledigen, dass die Erwartungen gerade so erfüllt sind und sich keiner beschweren kann, oder unser Anspruch an das Ergebnis ist über die Maßen hoch.

In beiden Fällen sind Angst und Stress Dauergäste in unserem Körper und Leben. Und wir fordern das Recht auf mehr Auszeit oder auch Auscheckzeit, in der wir uns von diesem innerlichen Zustand erholen können.

Aber erholen wir uns wirklich?

Es ist also gar nicht so einfach, aus dem bereits früh gelernten, gesellschaftlich anerkannten Kreislauf auszusteigen – aber was passiert, wenn wir es tun?

Einmal angehalten, können wir ernüchtert feststellen, dass ein Großteil unserer Zeit dabei drauf gegangen ist, das Rad am Laufen zu halten - das Rad der ewigen Erledigungen und Ablenkungen. Wenn aber wir selbst und auch kein anderer jemals mehr anhält, um uns selbst, uns gegenseitig und das Erledigte wertzuschätzen und zu genießen, für wen oder was und warum rennen wir dann eigentlich? Ein Gefühl von innerer Leere entsteht – „wozu das Ganze?“ Bin ich überhaupt noch ein wesentlicher Bestandteil meines eigenen Lebens? Habe ich vielleicht noch viel mehr verloren als meine Zeit, das Gefühl für Qualität und meine Wertschätzung?

Wie können wir aus diesem Kreislauf aussteigen?

Am Anfang steht die wichtige erste Entscheidung, das eigene Leben in seiner Fülle leben zu wollen, und selbst in jedem Moment der Hauptakteur zu werden, nicht nur im Urlaub oder nach Feierabend, sondern auch während der Arbeit, wenn wir Hausarbeiten erledigen, mit unserer Mutter telefonieren oder zum Amt müssen – einfach immer. Der wichtigste Punkt, uns zum Hauptakteur in unserem Leben zu machen, ist präsent zu sein in allem, was wir tun und nicht im Kopf bereits voraus zu eilen.

Der Schlüssel zum Ausstieg aus dem Kreislauf ist zu erkennen, dass ich mir selbst in diesen Momenten meines Lebens gefehlt habe und das Gefühl der Leere niemals aus einem Mangel an Aktivität oder Effektivität entsteht. Effektivität und Aktivität können das Ganze also nicht lösen.

Wir können dann als nächsten Schritt entscheiden, das Leben generell mit mehr Präsenz anzugehen, indem wir uns selbst und der Verbindung zu unserem Körper mehr Raum geben, das bedeutet vielleicht auch, dass wir da, wo dies möglich ist, für eine Tätigkeit mehr Zeit einplanen, als wir effektiv brauchen.

Das fällt am Anfang schwer, weil wir die stressige, effektive Herangehensweise so sehr gewohnt sind und die Menschen um uns herum womöglich alle im Modus des Funktionierens sind. Außerdem stecken wir in dem Kreislauf fest, dass, wenn wir die Dinge schneller erledigen, am Ende mehr Zeit „für uns“ dabei herauskommt. Zeit, die wir aber fast nie wirklich für und mit uns benutzen, denn wenn wir das Leben in zwei Kategorien aufteilen, Arbeit und Freizeit, Spaß und Pflicht oder Verantwortung und Entspannung, dann bleiben wir für immer in dem Hamsterrad von „keine Zeit zum Leben“ stecken.

Hier ein paar einfache Beispiele aus dem Alltag:

  • Wenn wir mit dem Auto fahren oder von A nach B laufen, können wir den Fokus darauf legen, mit unserem Körper präsent zu sein und nicht auf Automatik zu schalten und in Gedanken abzuschweifen. Das führt generell zu mehr Präsenz und Wachheit und wir können mehr vom Leben erfahren und genießen. Dies gilt eigentlich für alle alltäglichen Bewegungen, sei dies Zähne putzen, Geschirrspüler ausräumen, Rasen mähen, etc.

  • Statt die Aufgabe zu kategorisieren in etwas, das Spaß oder keinen Spaß macht, kann ich schauen, wie ich den „Spaß“ in jede Aufgabe mit hineinbringe.

  • Beim Einkaufen könnten wir mit mehr Zeit auch mal stehen bleiben und der Verkäuferin ein nettes Wort sagen, bzw. sie überhaupt als Mensch auf Augenhöhe zur Kenntnis nehmen.

  • Statt uns die Arme fast an den schweren Taschen auszurenken, könnten wir den Einkaufswagen bis zum Auto schieben, um dort in Ruhe umzuladen, so dass nichts kaputt gehen kann – vor allem nicht unsere Lebensqualität.

  • Wir können uns Zeit nehmen, aus ehrlichem Interesse heraus ein paar Worte mit dem Nachbarn zu wechseln.

Dies sind einfache Beispiele einer anderen Lebenshaltung, die jeden Tag geübt sein will – ja es braucht Übung, denn es ist zunächst ein „gegen den Strom schwimmen", weil wir aus einer anderen Gewohnheit kommen und weil um uns herum ein anderes Tempo gelebt wird. Deswegen gilt es immer wieder aufs Neue, die Entscheidung zu treffen, sich im eigenen Lebensrhythmus zu bewegen – in jedem Moment.

Dies erfordert etwas Disziplin, Selbstliebe, Mut zur „Andersartigkeit“ und am Ball bleiben wollen, aber es ist eine wunderbare Übung, denn das Leben beginnt, wieder Sinn und Freude zu machen, die Leere füllt sich und man beginnt zu fühlen, wie reich das Leben ist und nimmt außerdem vieles wieder wahr, was vorher einfach keine Aufmerksamkeit mehr bekam, wie:

Eine Feder auf dem Fußweg, der Wind auf dem Gesicht, die Berührung der Fingerspitzen am Lenkrad, die leuchtenden Augen eines Kindes oder der Rhythmus und Klang der eigenen Schritte.

Mit dem Gefühl, mehr Zeit zu haben, nehme ich auch mich selbst und meine Mitmenschen besser wahr. Und kennen Sie nicht auch das erfüllende Gefühl, wahrgenommen zu werden und mit anderen in Kontakt zu sein? Selbst der kurze Austausch eines Blicks mit einem uns unbekannten Menschen auf der Straße, ist dann bestätigend - denn letztlich erkennen wir uns alle - wenn wir uns außerhalb des Hamsterrades bewegen!

Die meisten Kinder leben so und können uns in dieser Hinsicht inspirieren. Da wir alle einmal Kind waren, lebt in jedem von uns die Erinnerung an ein Leben voller Magie und Staunen mit vielen kleinen Wundern, die jeden Tag um uns herum geschehen und das Leben bereichern.

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  • Von Judith Andras, Heilpraktikerin

  • Foto: Alan Johnston, Photographer