Achtsamkeit und Körperbewusstsein

Das Wort Empfindsamkeit hat in unserem Sprachgebrauch oft eine negative Konnotation, jedenfalls ist es keine Qualität, mit der man sich im Allgemeinen gerne schmücken möchte.

Empfindsam, empfindlich oder sensitiv zu sein erweckt eher den Eindruck, man sei der Welt nicht ganz gewachsen, man müsste mit Samthandschuhen angefasst werden und könnte keiner Belastung standhalten. Nicht gerade ein Attribut, mit dem man sich ausstatten möchte, in einer Gesellschaft, in der es vorrangig darum geht, seinen Mann zu stehen, auch als Frau und man sich eher rühmt, dass einen nichts umhaut. Wo auch Heldinnen zu Schwert, Pistole oder schlagfertigem Wort greifen und Zartheit und Sanftheit des femininen Geschlechts verpönt sind, obwohl Frauen von jeher die Hüter und Bewahrer dieser Qualitäten waren.

Warum sollte man also seine Empfindsamkeit schulen, schätzen und bewahren?

Nun zuerst einmal, weil es eine unbestreitbare, nicht wegzuredende Tatsache ist, dass wir eine sehr empfindliche Spezis sind. Jede Verletzung an der Haut ist höchst unangenehm und führt zu Reizungen oder gar Blutungen, bei größeren Temperaturschwankungen leidet unser Kreislauf und wir können nur in genau dem Klima, welches auf diesem Planeten herrscht, überleben und dass auch nur in bestimmten Regionen des Planeten. Jede größere Schwankung, egal ob Temperatur, Geräuschpegel, Lichteinfall oder Druckempfinden und Schmerz, versetzt uns in Panik in dem Wissen, dass das Spektrum, welches unser Überleben sichert, sehr schmal ist. Als Gegenmittel soll man sich, so wird uns gelehrt, abhärten und Widerstandskraft antrainieren, was natürlich nur zu einem gewissen, sehr limitierten Grad funktioniert.

Diese beschriebene Verletzlichkeit und Empfindsamkeit bezieht sich nun zunächst auf unseren physischen Körper, mit dem wir sehr identifiziert und verbunden sind. Da sollte man meinen, dass wir entsprechend feinfühlig und fürsorglich mit unserem Körper umgehen würden. Doch gibt es in uns Instanzen, die nicht so viel Rücksicht nehmen auf dessen Bedürfnisse. Eine dieser Instanzen assoziieren wir mit unserem Verstand oder Geist, der oft eigene Bedürfnisse und Interessen verfolgt, durchaus auch auf Kosten des Körpers und der, obwohl er sich der Konsequenzen durchaus bewusst ist, wenig Rücksicht auf diesen nimmt.

Es ist der Geist, der es liebt, zu bekommen, was er will oder schwierige Situationen und Herausforderungen zu meistern, sei dies auf körperlicher oder mentaler Ebene, egal was es kostet. Ihm ist es egal, ob der Körper darunter leidet, solange er sein Ziel erreicht.

Ob ich nun für einen Marathon trainiere, mich in Yoga Asanas verbiege, meine Doktorarbeit schreibe, stundenlang meditiere oder tagelang depressiv im Bett liege, der Geist nimmt den Körper als Geisel und zwängt ihm seine eigenen Vorstellungen und Ideale auf. Der Geist ist dabei die treibende Kraft und auch was nach außen hin vielleicht gesund und förderlich scheint, ist es nicht unbedingt, wenn es nicht tatsächlich im Einklang mit dem Körper und dessen Empfindsamkeit geschieht.

Es ist das Würdigen und Bewahren unserer Empfindsamkeit, welches die Verbundenheit mit unserem Körper herstellt und aufrecht hält. Unsere Empfindsamkeit ist wie ein Messinstrument, an dem wir unseren Grad an Selbstfürsorge und Selbstliebe messen können und von da genau wissen, was unser physischer Körper braucht.

Ein Bereich des Körpers, der unsere Empfindsamkeit deutlich widerspiegelt, sind unsere Fingerspitzen, hier sind wir besonders empfindlich und einfühlsam. Und sie spiegeln uns noch eine Eigenschaft, denn über unsere Fingerspitzen haben wir eine erhöhte Wahrnehmung. Denken wir mal an Blinde, die mit ihren Fingern lesen können oder auch wenn wir die Augen schließen, was wir alles über unsere Fingerspitzen wahrnehmen können, warm, kalt, hart, weich, nass, Texturen – hier sind viele Sensoren, die eine Vielzahl von Nachrichten an unser Gehirn weiterleiten. Wir können also getrost sagen, dass Empfindsamkeit unser Wahrnehmungsspektrum erweitert. Wenn man es sich überlegt, macht es auch total Sinn, um so empfindlicher ich bin, desto mehr nehme ich von meiner Umwelt auf und wahr. Denken wir mal an ein Tier, mit welcher Empfindsamkeit es riecht, hört und seine Umwelt aufnimmt.

Es gibt folglich einige Gründe, warum es Sinn macht, die eigene Empfindsamkeit zu schulen, zu schätzen und zu bewahren. Sie öffnet mir die Tür und lädt mich ein:

  • mich mehr um meinen Körper zu kümmern und mit ihm im Einklang zu leben.

  • dem Geist sein Oberwasser zu nehmen und ihn in seine Schranken zu weisen.

  • meine Wahrnehmung zu schulen und Dinge wahrzunehmen, die mir sonst nicht zugänglich wären.

Ob es sich für Sie lohnt, Ihre Empfindsamkeit zu bewahren oder wieder zu entdecken, müssen Sie selbst entscheiden, aber es ist eine Qualität, die einen unschätzbaren Wert hat, der in unserer Gesellschaft schnell vergessen oder übergangen wird, jedoch bewahrt werden sollte.

Wenn Sie Ihre Empfindsamkeit erforschen wollen, ist ein guter Anfang, Ihre Aufmerksamkeit den Fingerspitzen zuzuwenden und wahrzunehmen, was diese Ihnen mit ihrer Empfindsamkeit zu spüren erlauben, egal wo sie gerade sind. Dies kann die Textur ihrer Kleidung sein, während Sie in einer Besprechung sitzen oder die Tastatur unter ihren Fingern, das Lenkrad des Autos, eine Kinderhand oder das Holz des Kochlöffels, mit dem sie die Suppe rühren. In jeder Lebenslage gibt es etwas wahrzunehmen. Und mit Wahrnehmung geht erhöhtes Bewusstheit einher.

Wer weiß, welche anderen Dimensionen sich darüber für Sie öffnen werden!?

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  • Von Judith Andras, Heilpraktikerin